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Ortschroniken digital Scannen gegen den Verlust - so retten Forscher und Bürger Sachsen-Anhalts Heimatgeschichte

Ortschroniken speichern die Geschichte eines Dorfes. Jedoch: Die Pflege dieser Bücher ist aufwendiger und lokale Historiker sind knapp. Ein Projekt der Uni will das Erbe retten. Im kleinen Harsdorf ist das bereits geschehen.

Von Julius Lukas 19.08.2024, 14:00
Michael Hecht und Katrin Moeller probieren den Buchscanner aus, mit dem auch die Ortschroniken digitalisiert werden.
Michael Hecht und Katrin Moeller probieren den Buchscanner aus, mit dem auch die Ortschroniken digitalisiert werden. (Foto: Julius Lukas)

Halle/MZ. - Vielleicht war der Winter 1732 in Harsdorf besonders kalt. Übermittelt ist das zwar nicht, aber es gibt einen Hinweis. Denn in dem Dorf, das heute ein Teil Oppins ist und zur Stadt Landsberg im Saalekreis gehört, wurde um die Holzkasse gestritten. Die regelte, wer im Dorf welches Anrecht auf den Wald rundherum hatte. Und das musste, so scheint es, in Harsdorf neu festgelegt werden. Denn im Januar 1732 fing ein gewisser Major Rauchhaupt, der wohl so etwas wie ein Ortsvorsteher war, mit „allen vier Gemeinen einen Brozeß“ an. „Es gab also eine Verhandlung, in der die örtlichen Adeligen um Holzrechte stritten“, erklärt Michael Hecht. „Das war für das Dorf natürlich wichtig und deswegen landete es auch in der Ortschronik.“

Heimatgeschichte online: Sachsen-Anhalts Dörfer werden digital erfasst

Michael Hecht ist der Leiter des Instituts für Landesgeschichte am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalts (LDA). Dass er sich darüber Gedanken macht, was in Harsdorf vor fast dreihundert Jahren geschah, hat einen einfachen Grund: Die Harsdorfer Ortschronik ist Teil eines landesweiten Projektes, bei dem lokale Geschichte gesichert und erhalten werden soll. „Ortschroniken digital“ heißt das Vorhaben, dessen Name bereits beschreibt, worum es geht. „Wir wollen die Geschichte der Dörfer, die vielerorts in Büchern festgehalten ist, digitalisieren und dann im Internet verfügbar machen“, erklärt Katrin Moeller vom Historischen Datenzentrum der Uni Halle. In etwa 20 Orten in Sachsen-Anhalt haben lokale Chronisten bereits mit einem Scanner die eigene Heimatgeschichte kopiert. „So sind diese wichtigen landesgeschichtlichen Quellen dauerhaft und von überall auf der Welt zugänglich.“

Die Aufzeichnungen in der Harsdorfer Chronik aus dem Jahr 1732.
Die Aufzeichnungen in der Harsdorfer Chronik aus dem Jahr 1732.
(Foto: Wenzel/Uni Halle)

Chroniken wurden wohl geschrieben, seit Menschen schreiben können. Dass einzelne Orte ihre eigene Geschichte geordnet zu Papier bringen, ist hingegen ein Phänomen neuerer Zeit. Die Harsdorfer Aufzeichnungen begannen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. „Ab dem 19. Jahrhundert ist das Schreiben einer Ortschronik dann weit verbreitet und zum Teil auch staatlich angeordnet“, erzählt Michael Hecht. Oft seien es die Dorfpfarrer oder -lehrer gewesen, die diese Geschichtssammlungen anlegten. „Es waren Menschen, die dauerhaft vor Ort waren und auch über die Fähigkeit verfügten, zu schreiben.“

Ortschroniken waren Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Über die Jahrhunderte hinweg wurden die Niederschriften mit unterschiedlicher Intensität geführt. Anfang der 1990er Jahre gab es dann noch einmal einen neuen Schwung. „Damals war eine weit verbreitete Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Ortschroniken zu erstellen“, berichtet Hecht. Deswegen würde es vielerorts umfangreiche Sammlungen alter und neuerer Chroniken geben. „Und wir hatten immer wieder Anfragen von Bürgern und Heimatvereinen, die wissen wollten, wo sie denn mit ihren Werken hinsollen.“ Daraus spreche auch die Sorge, dass die Dorfgeschichtsbücher in Vergessenheit geraten, weil bei Heimatvereinen wie Ortschronisten der Nachwuchs fehlt. Die viele Arbeit, die in die Manuskripte floss, sollte nicht verloren gehen.

Einband der Harsdorfer Chronik.
Einband der Harsdorfer Chronik.
(Foto: Wenzel/Uni Halle)

Aus dieser Situation heraus entstand 2021 die Idee zum Digitalisierungsprojekt. Partner war dabei neben dem LDA und dem Datenzentrum der Uni Halle auch der Landesheimatbund, der seine Mitglieder auf das Vorhaben aufmerksam machte und den Scanner anschaffte, der seit Projektbeginn von Dorf zu Dorf zieht. So kam er auch zu Hilke und Peter Wenzel.

Das Ehepaar gehört zum Heimatgeschichtsverein Oppin. „Als wir vom Projekt hörten, dachten wir: Das wäre doch etwas für unsere Harsdorfer Chronik“, erinnert sich Peter Wenzel. Die sei vor Jahren im Wohnzimmer einer betagten Dorfbewohnerin aufgetaucht. „Für uns Heimatforscher ist so eine Entdeckung ein richtiger Schatz.“ Was im Dorf so erzählt werde, könne dadurch mit einer echten Quelle überprüft werden. Legenden würden so auch entkräftet. „Und wir sehen, was unseren Ort so beschäftigt hat: Tode, Hochzeiten und wer wann welches Haus angezündet hat.“

Schrift macht den Umgang mit den Chroniken kompliziert

Der Umgang mit der Chronik sei allerdings nicht ganz leicht gewesen. „Die ist ja in Kurrentschrift geschrieben, was man erst einmal lesen können muss“, sagt Wenzel. Dass das nicht einfach ist, bestätigt auch Katrin Moeller vom Historischen Datenzentrum. „Da die Chroniken über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte geschrieben wurden, wechseln die Autoren und damit auch die Handschriften.“ Es gebe zwar Programme, mit denen die alte deutsche Schreibschrift in lateinische Buchstaben übersetzt werden kann. Diese Software sei aber noch nicht in das Projekt integriert, zumal sie auch Geld kosten würde. „Aber natürlich wäre es langfristig wünschenswert, solche Übersetzungen zu haben, um die Chroniken auch lesbarer zu machen“, meint Moeller.

Jede Chronik wird als ein Band der Ortschronik-Reihe veröffentlicht.
Jede Chronik wird als ein Band der Ortschronik-Reihe veröffentlicht.
(Foto: Julius Lukas)

Sobald die Bürgerwissenschaftler in ihren Orten ihre Chronik gescannt haben, bekommt die Forscherin der Uni Halle die Dokumente. „Ich schaue dann, ob es in den Kopien doppelte Seiten oder andere Fehler gibt“, erklärt Moeller. Hinzu komme die Datenschutzprüfung. „Das ist insbesondere dann wichtig, wenn es Bilder oder Zeitungsausschnitte in den Chroniken gibt.“ Die Frage sei dann zum Beispiel: Leben abgebildete Personen noch? Denn das würde die Veröffentlichung auf einer weltweit abrufbaren Internetseite unmöglich machen. „Besonders bei jüngeren Chroniken muss man da vorsichtig sein“, sagt Moeller.

Trockenes Jahr 1911 in Harsdorf

Bisher wurden elf Chroniken veröffentlicht, darunter eine Schulchronik aus Halle sowie Ortschroniken etwa aus Schköna (Kreis Wittenberg), Hüselitz, Lüderitz, Schleuß oder Uetz (alle Kreis Stendal). Weitere Bände befinden sich in der Bearbeitung. „Für die Heimatforscher ist es schön, dass ihr Ort und seine Geschichte so eine Präsenz bekommen“, sagt Michael Hecht. Aber auch wissenschaftlich seien die Werke spannend. „Man sieht darin zum Beispiel, was Menschen zu unterschiedlichen Zeiten als wichtig angesehen haben.“ Die Harsdorfer Chronik etwa beginne damit, dass notiert wurde, wer im Dorf welche Abgaben bezahlen muss. „Das würde heute natürlich nicht mehr in solch einem Dokument stehen.“ Anders ist das beim Abschluss der Aufzeichnungen aus Harsdorf. Die enden im Jahr 1911, was ein „trockenes Jahr“ gewesen sei. So steht dort: „Es war so trocken, daß Wasser Not war; die alten Einwohner von Harsdorf wussten noch den gemeinen Brunnen, der vielleicht 50 zugefüllt war. Auf Anordnung des Ortsschulzen Herrn Karl Friedrich wurde der Brunnen wieder aufgegraben und gereinigt.“

Dass solche Ereignisse nun dauerhaft zugänglich sind, empfinden Hilke und Peter Wenzel aus Harsdorf als Gewinn. „Eine einzelne Chronik ist zwar nur ein Punkt in der Geschichte“, sagt Peter Wenzel. „Aber die vielen Chroniken zusammen bilden dann doch die Historie eines Landes ab.“ Und die werde – dafür sorge zum Beispiel der Heimatgeschichtsverein Oppin – stetig weitergeschrieben.

Info: So können Chroniken digitalisiert werden

Wer auch eine Ortschronik in seinem Besitz hat und diese digitalisieren will, kann sich bei einem der drei Projektpartner melden: Katrin Moeller vom Historischen Datenzentrum der Uni Halle, Michael Hecht vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalts sowie dem Landesheimatbund.