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Post-Covid und ME/CFS Video: Drei Betroffene aus Sachsen-Anhalt - wie Corona sie bis heute krank macht 

Sie sind gefangen in der Pandemie: Drei ME/CFS-Betroffene erzählen, wie sie noch heute mit Schmerzen, Konzentrationsstörungen und unendlicher Erschöpfung kämpfen.

Von Julius Lukas Aktualisiert: 11.07.2023, 14:06
Sandro Osterburgs Leben findet  auf wenigen Quadratmetern statt. Der 36-Jährige ist derzeit wieder auf einen Rollstuhl angewiesen.
Sandro Osterburgs Leben findet auf wenigen Quadratmetern statt. Der 36-Jährige ist derzeit wieder auf einen Rollstuhl angewiesen. (Foto: Julius Lukas)

Halle/MZ - Auf dem Sofa rutscht Stephanie Schlöffel ein Stück weiter nach unten. „Ich kann nicht mehr sitzen, da dreht sich alles“, sagt die 34-jährige Hallenserin. „Gestern“, erzählt sie, „habe ich Wäsche aufgehangen, gesaugt und abgewaschen.“ Das sei anstrengend gewesen, sie habe geschnauft, als würde sie Marathon laufen. „Aber es zeigt mir, dass ein bisschen mehr Belastung möglich ist.“ Nun jedoch räche sich die Hausarbeit. „Heute ist wieder so ein Tag, den ich eigentlich nur liegend ertragen kann.“

Stephanie Schlöffel leidet an ME/CFS. Die Abkürzung steht für die Doppeldiagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Dahinter steckt eine mysteriöse Erkrankung, die schon lange bekannt ist, bisher jedoch selten vorkam. Infolge der Corona-Pandemie haben sich die Fallzahlen jedoch vervielfacht.

In Sachsen-Anhalt gibt es laut Sozialministerium 122.000 Post-Covid-Betroffene, von denen nach Schätzung der Selbsthilfeinitiative #nichtgenesen bis zu 19.000 Erkrankte ME/CFS haben. „Da ist eine riesige Welle über uns hereingebrochen“, sagt Kai Wohlfarth, Chefarzt für Neurologie am Klinikum Bergmannstrost in Halle.

Im Video: Sandro Osterburg ist auf Rollator und Toilettenstuhl angewiesen

 
Sandro Osterburg erzählt von seinem Krankheitsverlauf. (Bericht: Anna Lena Giesert)

Auch Sandro Osterburg gehört zu den Betroffenen. Er lebt in Heinrichsberg (Kreis Börde). Die Tür öffnet er im Rollstuhl. Laufen wäre zu anstrengend. Und zu unsicher. „Mein Leben beschränkt sich gerade wieder auf meine Wohnung“, sagt Osterburg und rollt in sein Zimmer.

Darin stehen ein Krankenbett und ein Rollator, die Fenster sind abgedunkelt. In Griffweite vor dem Bett sind zwei Tüten mit Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln platziert. Daneben befindet sich ein Toilettenstuhl. „Den brauche ich gerade zum Glück nicht mehr, weil ich es ins Bad schaffe“, sagt Osterburg. Er ist 36 Jahre alt.

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Auf und Ab der Leistungsfähigkeit nach Corona-Erkrankung

Bis April 2021 war sein Leben nah an bilderbuchreif. Beim Salzproduzenten K+S arbeitete er im Bergwerk Zielitz als Schichtleiter, absolvierte nebenberuflich ein Maschinenbaustudium, sollte im Betrieb weiter aufsteigen. Mit seiner Freundin wollte er ein Haus bauen, dachte an Kinder. „Ich war sportlich, zielstrebig, stand mitten im Leben.“

Dann kam die Corona-Infektion. Ein schwerer Verlauf. Drei Tage Krankenhaus. „Ich war erst in Quarantäne, dann noch drei Wochen krank“, erinnert sich Osterburg. Als er wieder arbeiten ging, schaffte er es nur bis zum zweiten Tag. „Meine Haut kribbelte, ich war orientierungslos, so schwach, als hätte jemand einen Anker an mir befestigt.“

Stephanie Schlöffel verbringt viele Stunden am Tag auf ihrem Sofa.
Stephanie Schlöffel verbringt viele Stunden am Tag auf ihrem Sofa.
(Foto: Julius Lukas)

Was bei Sandro Osterburg nun folgt, beschreiben viele Betroffene: Es beginnt ein Auf und Ab der Leistungsfähigkeit. Es ist wie bei Sisyphos, der in der griechischen Mythologie einen Stein einen Hang hochrollen muss, den Felsbrocken aber kurz vor dem Gipfel immer wieder verliert.

Der Unterschied: ME/CFS-Betroffene kommen nicht einmal in Blickweite des Gipfels. „Bei normalen Menschen ist der Akku nach dem Schlafen bei mindestens 90 Prozent“, sagt die Hallenserin Oxana Garder. „Ich erreiche höchstens noch 20 Prozent.“

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Für Garder begann die Berg- und Talfahrt im November 2021. Damals bekam sie ihre zweite Corona-Impfung. „Schon nach der ersten hatte ich Probleme“, erzählt die Physiotherapeutin. Nun wurden die Beschwerden noch heftiger: Kopfschmerzen, Energielosigkeit, Zyklusprobleme, Lichtempfindlichkeit – und das sind nur einige Symptome. „Man fühlt sich elend, das ganze Leben, alles, was man sich aufgebaut hat, ist zerstört“, sagt Garder. „Aber Hilfe bekommt man keine.“

ME/CFS-Patienten fühlen sich von Ärzten oft nicht ernst genommen

Was die Betroffenen neben ihrer Erkrankung eint, ist das Unverständnis, mit dem auf sie reagiert wird. „Wird schon wieder, das habe ich ganz oft gehört“, sagt Stephanie Schlöffel. Ernst genommen fühlt sich die Friseurin weder von Kardiologen noch von Neurologen oder Internisten. „Sie sagten mir, ich soll mich nicht so reinsteigern – und das, obwohl mein Körper schmerzte, ich Herzrasen und Schwindelgefühle hatte.“

So ziemlich jeder ME/CFS-Patient bekommt erst einmal eine Diagnose aus dem Bereich der Psyche. Meist Depression. Die Seele, so die Idee, ermattet den Körper. Aus medizinischer Sicht ist das nachvollziehbar. Denn: „Bei diesen Patienten sind oft alle gängigen Untersuchungen ohne Befund“, sagt Neurologe Kai Wohlfarth. Von MRT bis Lungenröntgen – was die Ärzte auch untersuchen, sie finden nichts. „Das macht es schwierig, dieses Leiden auch als solches anzuerkennen.“

Nur mit Schlafbrille findet Oxana Garder wirklich Ruhe.
Nur mit Schlafbrille findet Oxana Garder wirklich Ruhe.
(Foto: Garder)

Kai Wohlfarth spricht deswegen statt von einer Krankheit von einem Beschwerdenkomplex. Diagnostiziert wird, indem alle anderen Erkrankungen ausgeschlossen werden und nur noch ME/CFS übrig bleibt. Auch bei der Ursache tappt die Medizin im Dunkeln. „Es gibt Ansätze“, sagt Bettina Niemann, Internistin am Bergmannstrost.

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Die Erklärungen reichten von einer schwelenden Infektion über eine Autoimmunerkrankung bis zu einer Gefäßinnenhautentzündung. Überzeugend sei bisher kein Ansatz. „Vielleicht ist es ein Zusammenspiel, da muss noch viel geforscht werden“, sagt Niemann.

Gängige Reha-Konzepte sind Gift für ME/CFS-Betroffene

Da die Ursache unklar ist, fällt das Therapieren schwer. Wenn es für Betroffene um Krankengeld oder Erwerbsminderungsrente geht, greifen Kranken- oder Rentenkassen daher auf Altbewährtes zurück, zum Beispiel Kuraufenthalte. Auch Sandro Osterburg hat eine solche Reha durch.

„Dort ging es hauptsächlich darum, mich schnell leistungsfähig zu machen“, erzählt er. Für ME/CFS-Patienten sei das aber Gift. Denn typisch für das Leiden ist eine sogenannte Belastungsintoleranz. Zu viel Aktivität führt zum Systemabsturz. „Ich hatte Rad- und Lauftraining“, erinnert sich Osterburg. „Dann war ich noch schwimmen, das habe ich früher gern gemacht.“

Am nächsten Tag sei er bei der Ergotherapie umgekippt, lag mit starkem Schmerz und kaum in der Lage sich zu bewegen für drei Tage allein auf seinem Zimmer. „Danach habe ich die Reha abgebrochen.“

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Fehlende Therapien, der belastende Alltag: Betroffene treibt das zu Experimenten. „Im Internet findet man jeden Tag neue Wundermittel“, sagt Stephanie Schlöffel. 10.000 Euro habe sie schon für Behandlungen ausgegeben, die die Krankenkasse nicht zahlt. Mal mit Effekt, mal ohne. Es gibt auch Medikamente, die gegen ME/CFS helfen sollen. Allerdings keine zugelassenen. Die Verwendung erfolgt auf eigenes Risiko. „Da fühlt man sich wie ein Versuchskaninchen“, meint Oxana Garder.

Initiative #nichtgenesen fordert bessere Versorgung für Betroffene und mehr Aufklärung über ME/CFS

Die Physiotherapeutin aus Halle ist auch Leiterin der Sachsen-Anhalt-Gruppe der Initiative #nichtgenesen. Zusammen mit anderen Erkrankten hat sie eine Petition beim Landtag eingereicht. Darin fordern sie eine bessere Versorgung für Betroffene, mehr Aufklärung über ME/CFS in der Ärzteschaft und weniger Bürokratie – etwa bei der Beantragung finanzieller Leistungen. Zudem soll mehr geforscht werden. „Es muss sich etwas tun, denn für uns steht das Leben still“, sagt Garder.

An schnelle Forschungserfolge glaubt Kai Wohlfarth nicht. „Was bisher noch am besten funktioniert, ist eine langsame Belastungssteigerung mit Edukation und Pausenmanagement“, sagt der Chefarzt. Er spricht dabei auch aus eigener Erfahrung, denn Wohlfarth war selbst schwer an Covid erkrankt, kämpfte sich aber zurück. So anstrengend es auch sei, Patienten müssten sich aktivieren. „Je länger jemand ans Bett gefesselt ist, desto schlimmer werden die Beschwerden“, sagt Wohlfarth.

Die Initiative #nichtgenesen hatte am 4. Juli vor dem Reichstag Rollstühle mit dem Fotos von ME/CFS-Betroffenen aufgestellt, um auf deren schlechte Versorgung aufmerksam zu machen.
Die Initiative #nichtgenesen hatte am 4. Juli vor dem Reichstag Rollstühle mit dem Fotos von ME/CFS-Betroffenen aufgestellt, um auf deren schlechte Versorgung aufmerksam zu machen.
(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Dieses langsame Steigern nennt sich Pacing. Damit versucht auch Sandro Osterburg, seinem dauerhaften Dämmerzustand zu entfliehen. Der Weg allerdings ist lang. „Vielleicht bin ich in fünf bis sechs Jahren so weit, dass ich wieder arbeiten kann“, meint er. Auch Stephanie Schlöffel sieht ein Ende ihres Leidens in weiter Ferne. Sie setzt auf Hoffnung: „Vielleicht kommt ja wirklich der Tag, wo ich wach werde und wieder so fit wie vorher bin“, meint die Friseurin. „Dann wäre endlich alles vorbei.“

ME/CFS ist seit 1969 als Krankheit anerkannt

ME/CFS wurde durch die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft. Das Kürzel steht für die Doppeldiagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Ausgangspunkt für das Leiden sind meistens Infektionen, zum Beispiel durch Influenza-Viren oder das Epstein-Barr-Virus.

Auch nach Impfungen kann ME/CFS auftreten. Insbesondere in Folge der Covid-Pandemie kam es zu einem deutlichen Anstieg der Fallzahlen. Bei Post-Covid-Erkrankten verstetigen und verstärken sich die Symptome. „Bei einigen Betroffenen kommt es auch zu einer stark ausgeprägten Fatigue-Symptomatik“, erklärt Bettina Niemann, Abteilungsleiterin Pneumologie am Klinikum Bergmannstrost Halle.

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„Das ist eine anhaltende Schwäche, begleitet von Müdigkeit und Belastungsintoleranz.“ Hinzu kommen noch rund 200 weitere Symptome von Lichtempfindlichkeit über Konzentrationsstörungen bis hin zu grippeähnlichen Zuständen.

ME/CFS: Teilweise niedrigere Lebensqualität als bei Schlaganfall- oder Krebspatienten

ME/CFS gehört zu den Krankheiten mit der niedrigsten Lebensqualität, sagt die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. „Teilweise niedriger als bei Schlaganfall- oder Krebspatienten.“ Studien hätte ergeben, dass Betroffene sehr niedrige Vitalitätswerte haben. Eine Ursache für die Erkrankung wurde bisher nicht gefunden.

Experten gehen von einem körperlichen Ursprung aus – nicht von einem psychischen. „Man sieht es den Patienten nicht an“, sagt Oberärztin Bettina Niemann. „Deswegen ist ME/CFS so schwierig zu diagnostizieren.“ Therapien gibt es keine. Als hilfreich gilt aber das Pacing. „Das ist ein stetiges Herantasten an die eigene Belastungsgrenze“, sagt Niemann. Man müsse genau auf seine Körper hören und lernen, seine Ressourcen einzuteilen.

In einigen Rehakliniken sei dieser Ansatz noch nicht verbreitet. „Da gibt es die alten Konzepte, dass die Leistungsfähigkeit in vier Wochen wieder hochgefahren werden kann“, so Niemann. Mit ME/CFS-Patienten gehe das jedoch nicht.