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Karate-Opa aus Staßfurt Karate-Opa aus Staßfurt: Furchtlos bis ins hohe Alter

Von Ralf Böhme 20.09.2016, 07:24
Andreas Kühn ist mit 60 Jahren der Älteste im Staßfurter Karate-Klub. Sein brauner Gürtel weist den Senior als ausgewachsenen Kämpfer mit hohen technischen Fertigkeiten aus.
Andreas Kühn ist mit 60 Jahren der Älteste im Staßfurter Karate-Klub. Sein brauner Gürtel weist den Senior als ausgewachsenen Kämpfer mit hohen technischen Fertigkeiten aus. Andreas Stadtler

Stassfurt - Dieser Kiai. Wow! Tarzan würde blass werden. Kiai - das klingt nicht nur so, das ist ein Urschrei. Unbändig, fanatisch, überraschend.

Jetzt ein Schritt nach vorn. Gleichzeitig geht auch der Arm nach oben. Blitzartig die Bewegungen, volle Konzentration, mit aller Kraft. Andreas Kühn geht zum Angriff über. Seine Lunge presst wie ein Kompressor. Lang einatmen, kurz ausatmen, dann wieder der Kampfschrei - ein Ton, der Uneingeweihte beinahe erstarren lässt. Und genau so muss es auch sein - bei Karate, der legendären asiatischen Selbstverteidigung.

Andreas Kühn lässt keine Übungsstunde aus

60 Jahre, aber leise? Kein bisschen. Im Training stellt Kühn jedes mal das Gegenteil unter Beweis. Andere mögen in seinem Alter schon an eine beschauliche Rentenzeit denken. Er dagegen lässt keine Übungsstunde aus. Das Ergebnis: Im Karate-Klub Staßfurt (Salzlandkreis) ist der Senior einer der Fitesten. Von Schwerfälligkeit, und der Mann bringt 100 Kilogramm auf die Waage, keine Spur.

Karate als Jungbrunnen, darauf schwört ebenso Ehefrau Ute. Auch sie strahlt auf den ersten Blick große Vitalität aus. Selbst einen Sturz, nachdem sie operiert werden muss, steckt sie klaglos weg. Wehwehchen, die viele nach langen Arbeitsjahren plagen, kennt das Paar nicht. Dabei sind ihre Jobs kräftezehrend. Die 59-Jährige ist Lehrerin, steht also meistens vor einer Klasse.

Der Ehemann arbeitet im Handel, sitzt dabei tagsüber lange am Computer. Ihre gemeinsame Erfahrung: Mit Karate lassen sich Körper und Geist in Schwung halten. Kühn sagt es so: „Der Mensch hat gut 650 Muskeln und mehr als 200 Knochen, bei unserem Sport wird davon so ziemlich jeder Zentimeter kräftig angetippt.“ Seine Frau ergänzt: „Wenn ich auf der Matte stehe, fällt der Stress des ganzen Tages von mir ab.“

Im Karate-Klub Staßfurt wird nichts dem Zufall überlassen

Urvater des Karate-Sports ist der Sage nach ein buddhistischer Mönch gewesen. Vor 1.400 Jahren soll er seine Glaubensbrüder mit den Grundregeln vertraut gemacht haben. Das ursprüngliche Ziel: Fitness für das endlose Meditieren.

Nach dem Motto „Kondition ist alles“ wird im Karate-Klub Staßfurt nichts dem Zufall überlassen. Und es gibt nur einen, der dabei das Sagen hat. Das ist der Sensei, der Lehrer und Meister. Er eröffnet und beendet das Training nach einem traditionellen Ritual. Dazu gehört gegenseitiges Verbeugen, ein Ausdruck des Respektes. Dann aber kommt der erste schweißtreibende Abschnitt, das Aufwärmen durch eine Intensivgymnastik. Erst nach Dehnübungen folgen die jeweiligen Techniken - Schlag, Stoß, Tritt und Block.

Kühn: „Karate muss man erleben“

Das ganze System ist für einen Laien schlicht nicht durchschaubar, da einfach zu vielfältig. Es lässt sich deshalb auch mit Worten kaum erklären. „Karate muss man erleben“, sagt Kühn. Ohne Sensei gehe es nicht. Er gibt den Schülern, die in Linie vor ihm stehen, die entsprechenden Kommandos. Jacki Chan, Hollywoods weltberühmter Karate-Schauspieler, hätte seine wahre Freude daran. In Staßfurt sieht es nämlich schon fast so aus, wie man es in diversen Filmen mit Kampfsporteinlagen kennt.

Dankbar erinnert sich Kühn an seinen ersten, inzwischen schon verstorbenen Karate-Lehrer. Sein Name: Luis Moreno. Der Chilene, ein ehemaliger Leibwächter des 1973 gestürzten Präsidenten Salvador Allende, habe vor über 15 Jahren in Magdeburg die Erfahrungen weiter gegeben. Kühn nennt ihn einen Glücksfall, auch menschlich. „Bei uns im Dorf gab es nur eine Fußballmannschaft. Und ich suchte ein spannendes Sportangebot für unsere beiden Kinder. Ich habe das Richtige damals gefunden.“ Die Begeisterung habe ansteckend gewirkt. So lernt dort bald die gesamte Familie das Karate-Einmaleins, nimmt dafür die Anreise vom heimatlichen Dorf an der Elbe bis in die Landeshauptstadt auf sich.

Karate in Sachsen-Anhalt

Vater, Mutter, Sohn und Tochter - am Anfang stehen sie alle mit dem weißen Gürtel auf der Matte. Weiß soll an unberührten Schnee in der Landschaft erinnern. Es ist die Farbe des Beginns. Jeder Sportler trägt eine Art Uniform, bestehend aus einer einfachen an der Hüfte geschnürten weißen Hose, der Zubon, früher bestehend aus Leinen, heute aus Baumwolle und einer Jacke, Uwagi genannt, aus dem gleichen Material. Gehalten wird die Jacke meist neben einer leichten Schnürung durch einen gefärbten Gürtel, den Obi. Es wird grundsätzlich barfuß trainiert.

2.000 Mitglieder in Sachsen-Anhalts Landesverband

Erste Erfolge stellen sich meist zügig ein, so auch bei Kühns. Während der Nachwuchs jedoch zwischendurch infolge Ausbildung pausiert, bleiben die Alten eisern dabei, wechseln später lediglich den Verein. Andreas Kühn bereitet sich, auch wenn er nicht darüber spricht, auf die nächste Prüfung vor. Der schwarze Gürtel, der ihn als Meister ausweisen würde, ist nämlich für ihn nicht unerreichbar. Allerdings stellt es für einen „Späteinsteiger“, wie er sich selbst nennt, die größte denkbare Herausforderung dar. „Aber ich will wissen, was geht.“ Vor seinem 70. Geburtstag jedenfalls will er nicht einmal ans Aufhören denken. Diese Haltung passt zur jetzigen Gürtelfarbe der Karate-Oberstufe. Ihre übertragene Bedeutung: „Der Baum hat eine starke Borke. Er ist jetzt ausgewachsen.“

Kämpfer von diesem Schlag wünscht man sich im Deutschen Karate-Verband noch viel mehr. Gut 2.000 Mitglieder zählt Sachsen-Anhalts Landesverband, die meisten sind zwischen 14 und 50 Jahre. „Jenseits dieser Altersgrenze halten sich leider nur wenige“, sagt Landessprecher Ralph Leitloff. Ihm zufolge könne man sich diesem Sport bis ins hohe Alter zuwenden, weil die Trainingsmöglichkeiten mannigfaltig seien. Vom Kampf gegen einen imaginären Schattengegner über den leistungssportlich orientierten Kumite-Wettbewerb bis hin zur aktiven Selbstverteidigung reiche das Spektrum. Landesweit gibt es 38 Vereine und Zentren, die eine Ausbildung in Karate anbieten. Damit nimmt Sachsen-Anhalt im Vergleich zu den anderen Bundesländern noch keinen Spitzenplatz ein. Doch ein Aufschwung scheint sicher. Denn ab 2020 gehört Karate zum olympischen Programm. (mz)

Die Stufen bis zur Meisterschaft

Gürtelfarben - dieses Thema ist nicht nur für Anfänger immer von großer Bedeutung. Letztere wollen natürlich den weißen Anfänger-Gürtel um den Bauch gegen einen farbigen Obi eintauschen. Man unterscheidet beim Karate zum einen zwischen Schülern und Meistern (Kyu- und Dan-Grade), zum anderen aber auch noch einmal unter den Schülern nach deren Graduierung, ausgedrückt durch die verschiedenen Gürtelfarben. Als Karate-„Meister“ gilt, wer die Dan-Prüfung, also die Prüfung zum Schwarzen Gürtel, abgelegt und das Dan-Diplom erhalten hat. Es gibt insgesamt 9 Dan- und 9 Kyu-Grade. Zudem gibt es noch einige Zwischengürtel, zum Beispiel Gelb-Orange. Sie liegen jeweils zwischen den einzelnen farblichen Gurten. Hauptziele von Karate ist jedoch das Training des Geistes, des Charakters und der inneren Einstellung, so der Leitspruch der weltweit führenden Japan Karate Association.

Andreas Kühn sucht das Gespräch mit dem Sensei, dem Karate-Lehrer. Ehefrau Ute ist gleichfalls aktive Karate-Kämpferin.
Andreas Kühn sucht das Gespräch mit dem Sensei, dem Karate-Lehrer. Ehefrau Ute ist gleichfalls aktive Karate-Kämpferin.
Andreas Stedtler