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Ich, das Russenkind Ich, das Russenkind: Ingrid Moritz ist auf der Suche nach unbekannten Geschwistern in Sachsen-Anhalt

Von Alexander Schierholz 07.02.2018, 11:00
Ingrid Moritz vor dem Dom in Magdeburg. Irgendwann zwischen 1945 und 1948 war ihr Vater als Soldat der Roten Armee auch hier stationiert. Nun hofft sie, dass sie vielleicht noch unbekannte Geschwister findet.
Ingrid Moritz vor dem Dom in Magdeburg. Irgendwann zwischen 1945 und 1948 war ihr Vater als Soldat der Roten Armee auch hier stationiert. Nun hofft sie, dass sie vielleicht noch unbekannte Geschwister findet. Andreas Stedtler

Magdeburg - Es ist nicht viel, was Ingrid Moritz von ihrem Vater geblieben ist. Ein Name. Ein paar Lebensdaten. Eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie. Und das Grab: rosa Marmor, die Inschrift „Ganz Smolensk hat dich als Partisan gekannt“ in Messing graviert. Grabstelle Nr. 4209 auf dem Russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois, einem Vorort von Paris. Spuren eines Vaters, den sie nie kannte.

Als Ingrid Moritz im April 1949 im Dorf Mengerschied im Hunsrück zur Welt kommt, ist ihr Vater schon weitergezogen nach Frankreich. Vier Jahre zuvor, in den letzten Monaten des Krieges, hat Vasilij Petrovitch Andreev, geboren 1924 in oder bei Smolensk, als Soldat der Roten Armee das damalige Deutsche Reich miterobert.

Er ist in Bunzlau stationiert, das heute zu Polen gehört, in Zerbst und in Magdeburg. 1948 setzt er sich gen Westen ab. In Mengerschied trifft er die Mutter von Ingrid Moritz.

Moritz, die heute in Trier lebt, ist ein sogenanntes Russenkind - eines der Kinder, die Soldaten der Roten Armee mit deutschen Frauen gezeugt haben. Oft wurden die Frauen vergewaltigt, manchmal entstanden die Kinder aber auch aus Liebesbeziehungen.

„Das Thema war tabu“: Erzeuger war Soldaten der Roten Armee

Wie das bei Ingrid Moritz war, darüber hat ihre Mutter nie gesprochen. Und die Tochter hat ihre Mutter auch nicht gefragt. „Das Thema war tabu“, sagt die Ärztin im Ruhestand. „Es durfte nicht sein, dass eine Deutsche schwanger wird von einem Russen.“ Gleich nach der Geburt von Ingrid Moritz wurde in Mengerschied der Mantel des Schweigens über ihre Herkunft gebreitet. Als das Mädchen zwei Jahre alt ist, heiratet ihre Mutter. Ingrid bekommt einen Stiefvater.

Viele Russenkinder kennen ihre Väter nicht nur nicht, sie wissen bis heute nichts über sie. Das zumindest ist bei Ingrid Moritz anders. Nach Jahrzehnten bricht ihre Mutter das Schweigen. 2009, als im Fernsehen eine Dokumentation über Besatzungskinder auf der Suche nach ihren Vätern läuft.

Da nennt die Mutter den Namen des Vaters. Sie erzählt von Briefen, die er ihr aus Frankreich geschrieben und die sie, in ihrem Hunsrück-Dorf, nie beantwortet hat. Die Briefe gibt es nicht mehr, der Stiefvater hat sie weggeworfen.

Für Ingrid Moritz, mittlerweile 60 Jahre alt, markiert die TV-Doku den Beginn der Suche nach ihrem Vater. Hat sie sich in all den Jahrzehnten vorher nie gefragt, wer dieser Mann eigentlich ist? „Ich hatte wenig Zeit, mich damit zu beschäftigen“, sagt sie. Ihre Mutter bekommt mit ihrem Stiefvater noch zehn Kinder.

Vasilij Petrovitch Andreev verarmt an Krebs gestorben

Über sie, das Russenkind, wird getuschelt im Dorf. „Ich wollte nur raus und für mich selber sorgen können.“ Ingrid Moritz hat die Fachhochschulreife im zweiten Bildungsweg nachgeholt und drei Berufe: kaufmännische Angestellte, Sozialarbeiterin, Ärztin. Die Fragen nach ihrem Vater müssen darüber irgendwie in den Hintergrund geraten sein.

Doch nun, 2009, kommen sie mit aller Macht zurück. Sie nimmt Kontakt auf zu einem Mann im Elsass, der sich darauf spezialisiert hat, Familien zusammenzubringen. Er wühlt sich durch Archive, findet eine Spur, die nach Frankfurt am Main führt. Dort stößt Ingrid Moritz auf jemanden, der sie mit Freunden ihres Vaters zusammenbringt, zwei hochbetagte Russen. Sie fährt nach Straßburg und nach Paris, sie schreibt Briefe und Mails.

Ihr Mann hilft ihr bei den Recherchen. Sie finden heraus, dass Vasilij Petrovitch Andreev in Osny bei Paris gelebt und lange ein Malergeschäft betrieben hat. Er hat eine Frau aus der Ukraine geheiratet, die ihn später verlassen hat. 1991 ist er verarmt an Krebs gestorben.

Bis kurz vor seinem Tod hat er Bienen gezüchtet. Im März 2012 steht Ingrid Moritz zum ersten Mal am Grab ihres Vaters auf dem Russischen Friedhof in Paris. Sie weint, als sie Zwiesprache mit ihm hält: „Warum hast du nicht auf mich gewartet?“

Ingrid Moritz hat nun einen Namen zu ihrem Vater und ein Grab. Sie ist überzeugt: Das muss er sein. Was ihr fehlt, ist ein Stück ihrer eigenen Identität. „Andere haben einen Vater und eine Mutter. Ich habe nur eine Mutter.“ Daher will sie ihren Vater in ihre Geburtsurkunde eintragen lassen.

Ingrid Moritz spürt „eine russische Seele“ in sich

Bisher stehen an der entsprechenden Stelle nur Striche, weil der Vater als unbekannt gilt. Der Eintrag wäre für die Tochter buchstäblich das Tilgen einer Leerstelle. Auf dem Papier und in ihrem Leben. „Es ist wichtig für mich zu wissen: Wer bin ich?“ Ja, wer? Ingrid Moritz sagt, sie spüre „eine russische Seele“ in sich. Vor fünf Jahren hat sie angefangen Russisch zu lernen. Sie wünscht sich, den Namen ihres Vaters annehmen zu können.

Doch für den Eintrag in die Geburtsurkunde brauchen die Behörden einen Beweis, dass Vasilij Petrovitch Andreev der Vater von Ingrid Moritz ist. Die französischen Absender-Adressen auf seinen Briefen an die Mutter, die sich mit Angaben der Freunde decken; der Name; das Grab; eine Aussage der Mutter vor Gericht, es handele sich bei Andreev um den Vater ihrer Tochter - all das reicht nicht.

Erst ein DNA-Test, der die Vaterschaft nachweist, wäre ein solcher Beweis. Doch dazu müsste der Leichnam in Paris exhumiert werden. Ingrid Moritz ruft beim Standesamt in Trier an, man verweist sie an das Familiengericht. Dort beantragt sie, die Geburtsurkunde ergänzen zu lassen. Die Richterin stellt in Frankreich einen Antrag auf Amtshilfe. Doch einer Exhumierung stimmen die Franzosen nicht zu. Also lehnt das Familiengericht den Antrag ab.

Ingrid Moritz klagt sich daraufhin durch alle Instanzen: Oberlandesgericht, Bundesverfassungsgericht - stets verliert sie. Sie legt Beschwerde ein beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, doch auch das erweist sich als vergeblich. Im November vergangenen Jahres teilt das Straßburger Gericht ihrem Anwalt lapidar mit, die Beschwerde sei unzulässig, die Entscheidung endgültig.

„Habe ich kein Recht darauf, meine Herkunft zu erfahren?“

Ingrid Moritz ist aufgebracht. Vor ihr auf dem Tisch liegt die Kopie eines Zeitungsartikels aus der Schweiz. Es geht darin um einen ähnlich gelagerten Fall: Ein Mann will eine DNA-Probe seines verstorbenen Vaters. Auch er klagt sich durch alle Instanzen bis nach Straßburg - und bekommt dort 2006 Recht. „Wie kann es sein, dass das Gericht einmal so und einmal anders entscheidet?“, fragt Moritz. „Habe ich kein Recht darauf, meine Herkunft zu erfahren?“ Ihre Stimme bebt, als sie das sagt.

Das Urteil aus Straßburg ist auch ein Grund, weshalb sie nun an einem trüben Februartag auf dem Domplatz in Magdeburg steht, den Landtag im Rücken, eine groß gewachsene, schlanke Frau, die letzte Gewissheit haben möchte. Ingrid Moritz will ihre Geschichte dort erzählen, wo ihr Vater unmittelbar nach dem Krieg einen Teil seines Lebens verbrachte, im heutigen Sachsen-Anhalt. Hat sie vielleicht Geschwister, von denen sie nichts weiß?

Hat ihr Vater in Magdeburg oder Zerbst mit anderen Frauen Kinder gezeugt?

Hat ihr Vater während der Stationierung in Magdeburg oder Zerbst mit anderen Frauen Kinder gezeugt? Kinder, denen der Name Vasilij Petrovitch Andreev etwas sagt? Die vielleicht noch Schriftstücke haben oder Fotos? Die genauso wie sie auf der Suche sind?

Über eine Exhumierung ihres Vaters müssten die französischen Behörden entscheiden. Doch wenn es noch weitere Kinder gäbe, die daran auch ein Interesse hätten, „dann würde das unsere Position stärken“, sagt sie. Es ist der Strohhalm, an den sie sich klammert. In Frankreich will sie sich einen Anwalt nehmen. Dieser soll ausloten, wie sich eine Exhumierung doch noch durchsetzen lässt.

Es ist fast zehn Jahre her, dass Ingrid Moritz mit der Suche nach ihrem Vater begonnen hat. Sie und ihr Mann sind dafür tausende Kilometer durch Europa gefahren, sie haben tausende Euro ausgegeben, Fahrt-, Gerichts- und Anwaltskosten. Woher nimmt sie die Kraft dafür?

Die Antwort ist so etwas wie eine Liebeserklärung an ihre Eltern und deren starken Willen. An ihre Mutter, die fast 90 geworden ist, elf Kinder geboren und ihr Leben lang hart gearbeitet hat. An Vasilij Petrovitch Andreev, der sich immer durchgesetzt hat, so haben es seine Freunde berichtet. „So bin ich auch“, sagt Ingrid Moritz nur. Bloß nicht aufgeben.

Besatzungskinder in Deutschland

Wie viele Kinder haben alliierte Soldaten am und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit deutschen Frauen gezeugt? Statistiken dazu gibt es nicht. In einer Studie von 2015 gehen die beiden Historiker Silke Satjukow (damals Uni Magdeburg, jetzt Uni Halle) und Rainer Gries (Uni Jena) von mindestens 400.000 Besatzungskindern aus, obwohl den Soldaten der persönliche Kontakt zu Deutschen verboten war. Die Forscher sagen aber auch: Die tatsächliche Zahl dürfte noch weit höher liegen. Viele Frauen hätten sich geschämt und ihren Familien gegenüber die Herkunft der Kinder verschwiegen. Wo dies nicht der Fall war, erfuhren die Kinder demnach häufig Ablehnung. Sie wurden etwa als „Russen-Bankerte“ oder „Neger-Kinder“ diskriminiert.

Unklar ist auch, wie viele der Kinder aus gewaltsamen und wie viele aus freiwilligen Beziehungen hervorgingen. Die Studie geht davon aus, dass in den letzten Kriegstagen, als die Alliierten in Deutschland einmarschierten, Vergewaltigungen vorherrschten, vor allem auf Seiten der Roten Armee. (mz)

Vasilij Petrovitch Andreev, 1960
Vasilij Petrovitch Andreev, 1960
privat