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Behinderte Angehörige Behinderte Angehörige: Warum pflegende Familienmitglieder kaum ausspannen können

Von Alexander Schierholz 30.07.2017, 18:58

Halle (Saale) - Die Pressemitteilung kam pünktlich zum Beginn der Urlaubszeit: „Kleine Auszeiten: Was pflegende Angehörige entlastet“ überschrieb die Krankenkasse AOK ein besonderes Angebot für Menschen, die Familienmitglieder zu Hause pflegen.

Wenn sie ein paar Tage ausspannen wollen, können sie ihre Schützlinge vorübergehend in die Obhut eines Heimes geben oder von Dritten weiter zu Hause betreuen lassen. Die Kassen erstatten 1 600 Euro pro Kalenderjahr für bis zu acht Wochen. Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege heißt das Modell.

In den Ohren von Siegfried und Ingrid Kummert muss das Angebot wie Hohn klingen. Das Ehepaar aus Halle, beide 75 Jahre alt, betreut seit Jahrzehnten seinen Sohn Stefan zu Hause. Der 50-Jährige ist Autist, er ist zu hundert Prozent erwerbsunfähig und hat Pflegegrad 5, den höchsten, den es gibt. „Stefan ist praktisch hilflos, er braucht eine Begleitperson“, sagt seine Mutter.

Pflege von behinderten Angehörigen ist ein Fulltime-Job

Seit Jahren versuchen Kummerts, einen Kurzzeit-Pflegeplatz für ihren Sohn zu bekommen, damit auch sie mal Urlaub machen können - vergeblich. Auch in der halleschen Paul-Riebeck-Stiftung, in der er zweimal pro Woche eine Tagesförderstätte besucht, hat es bisher nicht geklappt. Im dazugehörigen Förderwohnheim für behinderte Menschen ist bisher nichts frei.

Das ist nicht nur dort so. Für Erwachsene mit Behinderung existieren so gut wie keine Kurzzeit-Pflegeplätze in Sachsen-Anhalt. „Das ist ein generelles Problem“, sagt Jutta Hildebrandt, stellvertretende Vorsitzende des Behindertenbeirates, der die Landesregierung berät.

Zwar bieten die Behindertenheime im Land nach Auskunft des Sozialministeriums 9 000 Plätze. Doch für Kurzzeitpflege könnten diese nur genutzt werden, wenn sie zufällig gerade frei seien, sagt Ministeriumssprecherin Ute Albersmann. Einen solchen Platz zu bekommen, gleicht daher häufig einem Lotteriespiel.

„Auf Behinderteneinrichtungen gibt es seit Jahren einen Run“, sagt Hildebrandt, „die Wartelisten sind lang.“ Ursprünglich hätten viele Heime Kurzzeit-Pflegeplätze eingeplant, obwohl sie dazu nicht verpflichtet seien. Doch diese seien in der Regel nicht lange vorgehalten worden, „weil der Druck sie dauerhaft zu belegen, zu groß war“.

Das hat in erster Linie mit Geld zu tun. Behindertenheime erhalten pro Platz eine Pauschale aus der sogenannten Eingliederungshilfe, das ist ein Topf des Landes. Die Mittel fließen aber nur, solange der Platz besetzt ist. „Für einen leeren Platz, der für Kurzzeitpflege freigehalten wird, zahlt niemand“, sagt Stefan Labudde.

Labudde sitzt im Landesvorstand der Vereinigung Lebenshilfe und ist Geschäftsführer der Lebenshilfe Bördeland, die ein Altenheim und mehrere Behinderten-Wohnheime betreibt. Er kennt die Probleme aus eigener Anschauung und sagt: Es sei für Heimbetreiber wirtschaftlich nicht darstellbar, Heimplätze für Kurzzeitpflege zu reservieren. „Die Kosten, zum Beispiel für Personal, laufen ja weiter, auch wenn der Platz nicht belegt ist.“

Pflege von Angehörigen: Für die Altenpflege gibt es mehr Kurzzeitplätze als in der Behindertenbetreuung

Anders als in der Behindertenbetreuung sieht es in der Altenpflege aus. Die Altenheim-Betreiber halten nach Angaben des Sozialministeriums landesweit 170 extra ausgewiesene Kurzzeit-Pflegeplätze vor. Dazu kommen 1 200 „eingestreute“ Plätze in den Heimen, die flexibel für Kurzzeitpflege genutzt werden können - wenn sie frei sind.

In einem Altenheim der Paul-Riebeck-Stiftung könnte auch Stefan Kummert aus Halle einen Platz zur Kurzzeitpflege bekommen - theoretisch. Praktisch könne er dort aber nicht optimal betreut werden, sagt Kristina Wanzek, Leiterin des Förderwohnheims, weil er ständig einen Betreuer an seiner Seite brauche. Das sei in einer Alten-Einrichtung personell nicht möglich.

Wie viele behinderte Menschen in Sachsen-Anhalt überhaupt Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen könnten, ist unklar. Jutta Hildebrandt vom Behindertenbeirat geht von mindestens 500 Betroffenen aus. Das ist nach Erhebungen des Landes die Zahl derjenigen, die nur ambulant in Einrichtungen betreut werden, in sogenannten Fördergruppen, aber zu Hause wohnen und einen Pflegegrad haben.

Die Dunkelziffer sei aber höher, schätzt Hildebrandt. „Es wird viele geben, die nur zu Hause betreut werden, deren Eltern keine Hilfen in Anspruch nehmen und von denen wir gar nichts wissen.“

Familie Kummert aus Halle fühlt sich derweil allein gelassen bei der Suche nach einem Kurzzeit-Pflegeplatz für ihren erwachsenen Sohn. „Wir kämpfen doch nicht für uns allein“, sagt Siegfried Kummert verärgert, „wir möchten, dass allen Eltern, die ähnlich betroffen sind, geholfen wird.“ So steht es auch in einem Brief, den Kummerts an Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) geschrieben haben.

Kann die Politik helfen? Ja, findet auch Stefan Labudde von der Lebenshilfe: „In jedem Heim ständig einen Kurzzeit-Pflegeplatz vorzuhalten, muss politisch gewollt sein, damit die Pflegekassen und das Land die Vorhaltekosten übernehmen.“

Das Land aber will nun erst einmal prüfen, „ob ein tatsächlicher Rückgang der Kurzzeit-Pflegeplätze zu verzeichnen ist“, wie es in einem Schreiben des Ministeriums an die Familie heißt. Die Paul-Riebeck-Stiftung in Halle plant derweil, in ihrem Förderwohnheim für behinderte Menschen ab dem kommenden Jahr wenigstens einen Kurzzeitpflege-Platz anzubieten. (mz)