80 Kinder, ein Aufpasser 80 Kinder, ein Aufpasser: Wie gut können Sachsen-Anhalts Jugendämter noch arbeiten?
Magdeburg - Kinder in Pflegefamilien werden in Sachsen-Anhalt offenbar nur unzureichend überwacht. Nach aktuellen Zahlen des Landessozialministeriums sind Mitarbeiter in den Jugendämtern teils für mehr als 50 Pflegekinder zuständig. Das schlechteste Verhältnis hat das Jerichower Land: Dort muss eine Vollzeitstelle das Wohlergehen von 80 Pflegekindern sichern. Experten empfehlen eine Obergrenze von 25 bis 40 Kindern.
Die Arbeit der Jugendämter steht derzeit durch den Missbrauchsskandal von Lügde (Nordrhein-Westfalen) im Fokus. Auf einem Campingplatz soll sich ein Mann tausendfach an Kindern vergangen haben. Trotz Hinweisen auf Pädophilie hatte der Landkreis dem Beschuldigten ein Pflegekind übergeben.
Zeit nur für das Nötigste
Wegen fehlenden Personals würden Fehler mit derart schrecklichen Folgen auch in Sachsen-Anhalt wahrscheinlicher, urteilt der Landesverband für Pflege- und Adoptiveltern. „Die Mitarbeiter im Pflegekinderdienst tun, was sie können“, sagte Landesvorsitzende Kathrin Kube der MZ. „Aber sie sind einfach überlastet. Wenn jemand für 80 Kinder verantwortlich ist, kann er gar nicht die Kontrolle haben, die sein sollte. Da wird nur das Nötigste abgearbeitet.“
Der Verband schätzt, dass die Betreuungsrelation in vielen Landkreisen ähnlich schlecht ist. Die Statistik des Sozialministeriums beruht auf Zahlen der Landkreise und kreisfreien Städte.
Behörden können Pflegefamilien nur selten besuchen
Ihnen zufolge kommt in Halle eine Vollzeitstelle auf 25 bis 30 Kinder, in Wittenberg auf 43, in Anhalt-Bitterfeld auf 50, in Mansfeld-Südharz auf 55 Kinder. Der Verband der Pflege- und Adoptiveltern hält das noch für geschönt. „80 Kinder dürfte vielerorts die Realität sein“, urteilt Verbandsvorsitzende Kube.
Das liegt weit über dem, was Fachleute für verantwortbar halten. Das Institut für Soziale Arbeit in Münster etwa empfiehlt eine Obergrenze von 40 Kindern. Reinhard Wiesner, Verfasser des Standardkommentars zum Sozialgesetzbuch VIII, fordert maximal 25 Kindern pro Fachkraft.
Dass Sachsen-Anhalt davon weit entfernt ist, hat Folgen. Behördenmitarbeiter kämen nur selten, um Pflegefamilien zu besuchen, zu kontrollieren oder Hilfe anzubieten, kritisiert der Pflegeelternverband. „Mindestens einmal im Jahr sollte es so einen Besuch geben. Ich höre von vielen Pflegeeltern, dass es auch mal vier Jahre dauert, bis jemand kommt“, sagte Verbandschefin Kube.
Sozialministerin will Personalsituation nicht bewerten
Die Linksfraktion im Magdeburger Landtag teilt die Kritik. Sie hat die aktuellen Zahlen bei der Landesregierung abgefragt. „Die Mitarbeiter in den Jugendämtern können aktuell gar nicht all das erledigen, was in ihrem Aufgabenbereich liegt“, sagt Familienpolitikerin Monika Hohmann. Die fehlende Betreuung und Unterstützung sei auch ein wesentlicher Grund, warum sich zu wenig Menschen bereitfänden, Pflegekinder aufzunehmen.
Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) wollte auf MZ-Nachfrage nicht bewerten, ob die Jugendämter ausreichend Personal haben. Eine allgemeingültige Aussage sei „nur schwer zu treffen“, so ein Sprecher.
Immer mehr Kinder in Obhut
Grimm-Benne will die Landkreise und die kreisfreien Städte befragen, ob sie selbst Bedarf für einen Richtwert sehen. Der Landkreis Jerichower Land urteilte, das eigene Jugendamt leiste „durchaus hohe Qualität“ in der Arbeit. „Die reinen Zahlenwerte erlauben keinen seriösen Vergleich“, so die Sprecherin. Im Bereich Pflegekinder würden zwei Vollzeitkräfte von zehn weiteren Sozialarbeitern unterstützt.
Die Zahl der Kinder, die von den Behörden in Obhut genommen werden, steigt seit Jahren an. 2013 gab es 844 Fälle, 2017 bereits 1 266. Der Großteil der Kinder wird im Heim untergebracht, nur für eine Minderheit wird eine Pflegefamilie gefunden. Das Jugendamt greift ein, wenn das Wohl von Kindern in der Familie gefährdet ist.
(mz)