Abkehr von 111-jähriger Tradition 40 statt 45 Minuten: Warum Sachsen-Anhalt die Schulstunden verkürzen will
Die Magdeburger Regierungsparteien wollen für den Unterricht eine neue Zeitaufteilung testen. Ist das überhaupt zulässig?

Magdeburg - Sachsen-Anhalts Regierungsparteien stellen die seit mehr als 100 Jahren übliche Schulstunden-Dauer von 45 Minuten in Frage. Als Reaktion auf den Lehrermangel sollen Schulen künftig entscheiden dürfen, nur noch 40 Minuten zu unterrichten. An diesem Donnerstag wollen CDU, SPD und FDP mit einem Landtagsbeschluss den Weg für Modellversuche freimachen.
Neue Zeitaufteilungen sollen zunächst an „ausgewählten“ allgemeinbildenden Schulen getestet werden, heißt es in dem Auftrag an die Landesregierung. Ziel sei „die Übernahme dieser Modelle in den Regelbetrieb unserer Schulen“. Eine Auswertung der gewonnenen Erfahrungen erwarten die drei Regierungsparteien nach dem Schuljahr 2022/2023.
Eine Planungsgröße schon seit 111 Jahren
Die Unterrichtsstunde zu 45 Minuten ist ein Erbe aus preußischer Zeit. Am 22. August 1911 hatte der damalige Kultusminister August von Trott zu Solz die sogenannte Kurzstunde „für alle höheren Lehranstalten“ verbindlich gemacht. Die anderen deutschen Länder folgten dem Beispiel.
Der nun vom CDU-Bildungspolitiker Carsten Borchert initiierte Antrag will mit dieser Regelung Schluss machen - zumindest für jene Schulen, die das selbst wollen. „Die Idee kann nur erfolgreich sein, wenn das Kollegium davon überzeugt ist“, sagte Borchert der MZ. „Aber wenn wir in der Bildung nicht neue Strukturen zulassen, gehen wir unter.“
Pro Lehrer würden drei zusätzliche Stunden herausspringen
Die Rechnung des Christdemokraten geht wie folgt: Wöchentlich 25 Stunden à 45 Minuten müssen die Lehrkräfte an weiterführenden Schulen ableisten. Verkürzt man die Stunden auf 40 Minuten, ergeben die abgeknapsten Minuten drei weitere Schulstunden. Diese Zeit könne man dann für all das verwenden, was durch den Lehrermangel derzeit nicht möglich ist. „Vielleicht gibt es dann eine Klassenleiterstunde zum Besprechen von Problemen, eine Stunde Förderunterricht und eine Stunde Vertretung für einen kranken Kollegen“, sagt Borchert. Davon würden Schüler wie Lehrer profitieren.
Hintergrund der Überlegungen ist der sich seit Jahren verschärfende Lehrermangel. In Sachsen-Anhalt gibt es für keine einzige Schulform mehr ausreichend Pädagogen. In Sekundarschulen ist die sogenannte Unterrichtsversorgung nach jüngsten Zahlen des Bildungsministeriums auf 89 Prozent abgesackt, in Förderschulen sind es 92 Prozent, an Grundschulen 96 und an Gymnasien 98 Prozent. Rechnerisch wäre allerdings ein Wert von 103 Prozent notwendig, um den Unterricht trotz Erkrankungen vollständig abzudecken. Von diesem selbst gesteckten Ziel der schwarz-rot-gelben Regierungskoalition entfernt sich das Land immer weiter.
Es ist allein die Angelegenheit von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Arbeitszeiten auszuhandeln.
Linken-Fraktionschefin Eva von Angern
Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) nennt eine neue Aufteilung der Unterrichtszeit „ein interessantes Projekt“, das es nun zu erproben gelte. Politisch ist das Vorhaben allerdings umstritten. Die Linksfraktion hält das Vorhaben schlicht für illegal. „Es ist allein die Angelegenheit von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Arbeitszeiten auszuhandeln. Dass die Gewerkschaften nicht einmal gehört werden, ist inakzeptabel“, sagte Linken-Fraktionschefin Eva von Angern der MZ.
Die Koalition beteuert, es gehe ihr keinesfalls um eine Mehrbelastung der Lehrer - die Zahl der Unterrichtsminuten ändere sich ja nicht. Die Lehrergewerkschaft GEW fürchtet dennoch Mehrarbeit. „Wenn sich die Arbeitszeit auf mehr Schulstunden mit anderen Klassen aufteilt, dann gehören dazu auch mehr Klassenarbeiten, mehr Klassenkonferenzen und Beratungen mit Eltern“, warnt GEW-Landeschefin Eva Gerth. Bildungsministerin Feußner versichert hingegen, der arbeitsrechtliche Rahmen werde geklärt - „und den Lehrkräften darf keine zusätzliche Arbeit entstehen“.
Die Kultusministerkonferenz rechnet mit 45 Minuten - ein Problem?
Völlig unklar sind allerdings auch eventuelle Auswirkungen auf das Gymnasium. Laut Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) muss jeder Schüler bis zum Abitur eine Mindestzahl von Unterrichtsstunden absolvieren - beim Modell nach zwölf Jahren wie in Sachsen-Anhalt sind das rund 33 Stunden pro Woche. „Dabei liegt eine Stunde von 45 Minuten zugrunde“, sagte KMK-Sprecher Torsten Heil. Unklar ist daher, ob es die anderen Länder akzeptieren, wenn Sachsen-Anhalt davon abweicht.