Sachsen-Anhalt Sachsen-Anhalt: Von der Kohle eingeholt
Röcken/Sössen/MZ. - Holger Mehnert hat die Nase voll. "Wir sind jetzt auf Ökostrom umgestiegen", erzählt der 41-Jährige mit dem dunklen Schnauzer, "wir wollten endlich weg von dem fossilen Zeug." Weg von der Braunkohle, mit der er groß geworden ist. Wo jetzt ein großer See ist, in Zöbigker südlich von Leipzig, lärmten in seiner Kindheit die Abraumbagger. Erst zog er in die nahe Großstadt. Schließlich baute er 1995 mit seiner Frau ein altes Haus aus in Gostau, einem Ortsteil von Sössen bei Weißenfels. "Und jetzt", sagt Mehnert, "jetzt holt mich die Kohle wieder ein."
Holger Mehnert hat Angst, dass er abermals wegziehen muss. So wie Hunderte anderer Bewohner der Dörfer Röcken und Sössen. Dort lässt die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft (Mibrag) derzeit den Untergrund erkunden. Probebohrungen sollen Aufschluss darüber geben, ob es sich lohnt, die südlich von Lützen lagernde Braunkohle abzubauen. "In Bürgerversammlungen war schon von Umsiedlung die Rede", sagt Mehnert. Er sitzt auf seiner Terrasse, blinzelt in die Sonne, den Pool im Blick. All das aufgeben?
"Das muss ich korrigieren", sagt Heiner Krieg energisch. Noch sei gar nicht klar, ob und wenn ja welche Dörfer weggebaggert würden, erklärt der Mibrag-Geschäftsführer. Erst müssten die Ergebnisse der Probebohrungen vorliegen, dann werde entschieden, ob der Abbau überhaupt wirtschaftlich tragbar sei. Im Frühjahr 2008 soll es soweit sein. Und dann schiebt Krieg noch einen Satz hinterher, der den Eindruck erwecken soll, es sei doch alles gar nicht so dramatisch: "Jede Umsiedlung", sagt er, "ist eine zu viel." Sie koste ein "Wahnsinnsgeld" und sei für die Wirtschaftlichkeit eines Tagebaus "außerordentlich schädlich".
Holger Mehnert und seine Mitstreiter wollen sich davon nicht beruhigen lassen. "Wir haben uns einlullen lassen", sagt Rainer Küster, Sprecher der mittlerweile gegründeten Bürgerinitiative gegen einen neuen Tagebau, "aber jetzt ist Schluss damit." Sie haben sich Rat geholt im sächsischen Heuersdorf, das der Kohle weichen musste. Sie haben eine Homepage ins Netz gestellt, den Gemeinderat von Sössen auf ihre Seite gezogen. Der befragte die Bürger, was sie vom Tagebau halten. Das Ergebnis, bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent: 83 Prozent sind dagegen.
In Sössen und Röcken sind sie optimistisch, die Tagebau-Pläne noch kippen zu können. "Wir gehen davon aus, dass wir hier bleiben werden", gibt Küster sich selbstbewusst. Warum? Da ist das langwierige Genehmigungsverfahren für einen Tagebau. Auch Mibrag-Manager Krieg räumt ein, dass es sich nach Recht der europäischen Union um einen so genannten Neuaufschluss handeln werde. Das bedeute eine aufwändigere Umweltverträglichkeitsprüfung als bislang - Ausgang offen.
Da sind die mangels Partner vorerst geplatzten Pläne der Mibrag für einen Kraftwerksneubau in Profen bei Zeitz. "Wenn die kein Kraftwerk für ihre Kohle haben, brauchen sie auch den Tagebau nicht", glauben Küster und Mehnert. Stimmt das? "In gewisser Weise" sei das Kraftwerk Voraussetzung für einen neuen Tagebau, räumt Krieg ein. Und gibt sich optimistisch: "Wir gehen fest davon aus, dass wir einen Partner finden." Es gebe Gespräche mit mehreren Interessenten, Details nennt er nicht.
Die Mibrag setzt darauf, dass der Abbau im "Interesse des Gemeinwohls" ist, wie es heißt. Das muss das Unternehmen nachweisen, um die Kohle abbaggern zu können. Was aber ist im Interesse des Gemeinwohls? Mibrag-Manager Krieg redet jetzt von den 2 000 Leuten, die direkt bei der Mibrag arbeiten. Von rund 2 800 Jobs, die das Unternehmen zusätzlich sichere, bei Zulieferern, in der Versorgung, im regionalen Einzelhandel. Er redet von der "Wertschöpfung vor Ort durch die heimische Braunkohle". Davon, dass die Kohle in Ostdeutschland die Energieversorgung sichere.
Wird das am Ende alles reichen für einen neuen Tagebau? Rainer Küster glaubt es nicht. "Wir leben in anderen Zeiten", sagt er. Sicher, erst vor zehn Jahren ist Großgrimma für den Kohleabbau umgesiedelt worden. Viele der Dorfbewohner leben heute in Hohenmölsen. "Aber das ist nicht vergleichbar", sagt Dorothee Berthold. Die 52-Jährige stammt aus Großgrimma, als sie 14 war, ist sie mit ihren Eltern nach Lützen gezogen. "Unser Dorf war damals schon Bergbauschutzgebiet", erinnert sie sich, "das hieß, die Kohle kommt, an den Häusern hat niemand mehr was gemacht." Dorothee Berthold lebt heute in Röcken. Auch sie will von der Kohle nicht mehr eingeholt werden.