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Rechte Gewalt auf Höchststand Sachsen-Anhalt: Rechte Gewalt auf Höchststand - Unter den Opfern sind zunehmend Kinder

Von Alexander Schierholz 17.03.2017, 07:00

Halle (Saale) - Nur mit unwahrscheinlich viel Glück kommt der Mann mit dem Leben davon. Zerbst, 30. Juni vergangenen Jahres: Der 34-Jährige aus Pakistan wartet auf dem Bahnhof auf den Zug nach Magdeburg, als er von einer Gruppe Jugendlicher attackiert wird. Erst beschimpfen sie ihn als „Scheiß Ausländer“, dann treten und schlagen sie zu. Erst als ihr Opfer schwer verletzt auf den Gleisen liegt, lassen sie von ihm ab. Weil sich der Pakistani aus eigener Kraft aufrichten kann, erfasst der einfahrende Zug ihn lediglich an der Schulter.

Erschreckende Jahresbilanz für 2016: Opferberater registrieren 65 politisch rechts motivierte Gewalttaten

Fälle wie dieser finden sich zuhauf in den Chroniken der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt - und es werden immer mehr. Am Donnerstag stellte die zum Verein „Miteinander“ gehörende Beratungsstelle ihre Jahresbilanz für 2016 vor. Sie fällt erschreckend aus: 265 politisch rechts motivierte Gewalttaten registrierten die Opferberater. Das ist erneut ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr (2015: 217 Angriffe) - und der höchste Stand seit dem Beginn der Statistik 2003.

Eine Sprecherin sprach von der „bittersten Bilanz seit Bestehen der Mobilen Opferberatung“. Zwei Dritteln der Fälle lagen rassistische Angriffe zugrunde. Ein Viertel richtete sich gegen politische Andersdenkende, die sich etwa bei Demonstrationen Neonazis entgegenstellen.

Eine besonders besorgniserregende Tendenz stellten die Berater fest: Die rassistische Gewalt gegen Kinder häuft sich massiv. So gab es 45 Angriffe gegen unter 14-Jährige, fast dreimal so viel wie im Vorjahr. Die Hemmschwelle, gegen Kinder vorzugehen, sei dramatisch gesunken, warnt die Beratungsstelle. Das gelte auch für jugendliche Täter, die häufig menschenverachtende Einstellungen von ihren Eltern übernommen hätten.

Schwerpunkt liegt in Großstädten, Zahl der Delikte steigt aber auch in ländlichen Regionen

Als Schwerpunkt rechter Gewalt hat die Opferberatung erneut Halle ausgemacht (47 Fälle), gefolgt vom Jerichower Land (40), Magdeburg (30) und dem Saalekreis (20). Eine extreme Zunahme verzeichnet die Statistik in Dessau-Roßlau - von drei auf 19 Fälle. Als Grund sehen die Berater eine erstarkte rechtsextreme Szene in der Stadt.

Auch in ländlichen Regionen ist die Zahl der Delikte vielfach angestiegen. Den Beratern zufolge hängt das mit der Unterbringung von Flüchtlingen und ihren Familien in kleineren Orten zusammen - und mit dem gesellschaftlichen Klima gegenüber Migranten: „Wenn über Geflüchtete zunehmend als kriminell und über Abschiebungen gesprochen wird, dann fühlen Täter sich ermutigt“, so die Sprecherin der Opferberatung. Der Grünen-Innenexperte Sebastian Striegel macht dafür auch den politischen Gegner verantwortlich: Die AfD falle im Landtag regelmäßig mit einer aggressiven Rhetorik gegen Flüchtlinge und Muslime auf, kritisierte Striegel.

Opferbratung unterstellt „fortbestehendes Wahrnehmungsdefizit“ bei der Einordnung rechter Gewaltstraftaten

Die von der Opferberatung präsentierten Zahlen fallen in der Regel höher aus als die in der offiziellen Polizei-Statistik, die Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) in der kommenden Woche vorstellen will. Das liegt zum einen daran, dass die Beratungsstellen in Halle, Magdeburg und Salzwedel auch Fälle erfassen, in denen die Betroffenen keine Anzeige erstatten, zudem gibt es methodische Unterschiede bei der Erfassung.

Die Opferberatung unterstellt der Polizei aber auch ein „fortbestehendes Wahrnehmungsdefizit“ bei der Einordnung rechter Gewaltstraftaten. So habe das Landeskriminalamt nur gut die Hälfte der polizeibekannten einschlägigen Delikte auch als politisch rechts motiviert registriert.

Als politisches Signal fordern die Berater zudem ein Bleiberecht für von rechter Gewalt betroffene Migranten. In Brandenburg gibt es bereits einen entsprechenden Erlass. Sachsen-Anhalts Innenministerium sieht dafür trotz der gestiegenen Fallzahlen aber offenbar keinen Bedarf. Ein solcher Erlass sei nicht geplant, sagte ein Sprecher am Donnerstag auf Anfrage der MZ.  (mz)