Tränen bei der Sprengung Zuckerfabrik Vitzenburg: Bei der Sprengung liefen bei den Mitarbeitern Tränen

Vitzenburg - „Er war schräg, dann fiel er in drei Teile und klatschte hin.“ So schildert Rudi Bege aus Liederstädt die Sprengung des Schornsteins der Zuckerfabrik Vitzenburg. „77 Meter war er hoch“, fügt der 90-jährige Bege, einst für ein paar Jahre Betriebsleiter, an. Er stand an einem Tag im September 1993 mit Familienangehörigen und vielen anderen Leuten aus der Umgebung auf einem Acker unweit der Fabrik, von wo aus man die Sprengung beobachten konnte.
Die Chemie ist heute das wirtschaftliche Aushängeschild der Region zwischen Querfurt und Günthersdorf. Doch im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrhunderte waren für die einzelnen Städte und Dörfer noch ganz andere Wirtschaftszweige prägend. Sei es das Eisenwerk von Schafstädt, die Papierfabrik in Merseburg oder die Zuckerproduktion in Vitzenburg. Die MZ hat sich auf die Spurensuche begeben und beleuchtet an dieser Stelle jede Woche verschwundene Unternehmen oder Wirtschaftszweige.
Als der Schornstein fiel, sollen Tränen bei einigen Zuschauern geflossen sein, hat die MZ bei Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern erfahren. 140 Jahre war die Zuckerfabrik Vitzenburg in Betrieb.
Grund und Boden der Zuckerfabrik Vitzenburg gehörte ursprünglich Reinsdorf
1850 wurde die sie gebaut. Wie es in den chronistischen Aufzeichnungen von Arthur Selke, Jahrgang 1902 und bis zu seinem Tod 1962 Buchhalter in der Fabrik, heißt, ist im Grundbuch des Königlichen Amtsgerichtes zu Querfurt als Gründer der Fabrik der Rittergutspächter Amtmann Hübner, Weißenschirmbach, eingetragen. Dieser soll als Mittelsperson für den Besitzer des Vitzenburger Schlosses, Graf von der Schulenburg-Heßler, in Erscheinung getreten sein.
„Bekannt ist, dass der Grund und Boden, auf dem die Zuckerfabrik Vitzenburg errichtet wurde, ursprünglich Reinsdorf gehörte. So wurden Felder getauscht, um dem Betrieb die günstige Lage an der Unstrut zu ermöglichen“, wird in der Chronik geschrieben.
Kähne transportierten einst die Zuckerrüben über die Unstrut
Kähne - dass einer „Ottilie“ und einer „Perle“ hieß, kann sich Bege erinnern -, wurden viele Jahre zum Transport von Rüben, Futterschnitzeln und Kalkstein eingesetzt. Den fertigen Zucker brachte man in den Anfangsjahren per Fuhrwerk zur Bahnstation ins 30 Kilometer entfernte Röblingen am See. Mit Inbetriebnahme der Bahnstrecke Vitzenburg-Röblingen wurde diese genutzt.
Nach Angaben des ehemaligen Buchhalters hat die Fabrik im ersten Jahr ihrer Bestehens 56.920 Zentner Rüben verarbeitet, was einer Tagesleistung von etwa 20 Tonnen entsprach. Vier Jahre später soll die Gesamtverarbeitung 135.938 Zentner betragen haben.
Nicht nur Zucker wurde hier produziert
Die hohe Wirtschaftlichkeit begründet Selke mit dem besonderen Interesse des Staates an der Entwicklung der Zuckerindustrie, „die ihn von der Einfuhr des teuren Rohrzuckers unabhängig machte“. 1868 wurde der Fabrik eine Spiritusbrennerei angegliedert. Später, ab Mitte der 1950er, wurden für einige Jahre auch Steine und Dachziegeln produziert. „Das war politisch gewollt, weil der Bedarf groß war“, sagt Rudi Bege.
Nach dem Tod Hübners 1869 ging die Zuckerfabrik ins Eigentum der von der Schulenburgs über. Gab es 1850 nur 13 Zuckerfabriken im Land, waren es laut Selkes Chronik um die Jahrhundertwende schon 404. Für das Jahr 1893 hat Selke die Produktivität der Vitzenburger Fabrik mit anderen, später entstandenen Nachbarfabriken verglichen und stellt fest, dass Vitzenburg überholt wurde. Zuckerfabriken im Umland hatten sich längst auf genossenschaftlicher Basis erweitert und konnten auf mehr Anbaufläche zurückgreifen.
Vor über 100 Jahren brannte die Zuckerfabrik restlos ab
Im Jahr 1902 war ein Neuanfang in Vitzenburg nötig: Am 4. Juli brannte abends 8.30 Uhr die Fabrik restlos ab. Der Maschinenmeister wurde kurz danach fristlos entlassen. Er soll durch das Wegwerfen eines Zigarettenstummels den Brand verursacht haben. Eine Versicherung regulierte den Schaden. „Es wurde sofort mit dem Aufbau unter wesentlicher Vergrößerung der Kapazität begonnen“, heißt es bei Selke. Dennoch sei Vitzenburg von fast allen Nachbarbetrieben in der Tagesverarbeitung überflügelt worden.
Im Jahr 1910 wurde die Zuckerfabrik in eine GmbH umgewandelt. Von der Schulenburg hatte durch die Mehrheit der Beteiligung aber weiterhin großen Einfluss. Als im Jahr 1930, „an einem Wochentag im Frühling“, so Selke, die Beisetzung des verstorbenen Grafen von der Schulenburg stattfand, habe in der Fabrik seit ihrem 80-jährigen Bestehen zum ersten Mal an einem Werktag die Arbeit geruht. Nachfolger des Vorstandsvorsitzenden wurde dessen Schwiegersohn, Freiherr von Münchhausen.
Die Zuckerfabrik Vitzenburg durchlief danach schwere Zeiten
Schwere Zeiten durchlief die Fabrik in den folgenden Jahren: Banken gaben nur zögernd Kredite, der Konkurrenzdruck war immens. Von Stilllegung war Ende der 30er Jahre die Rede. Nur der Kriegsausbruch habe dies verhindert, schreibt der ehemalige Buchhalter. „So ist es gekommen, dass Vitzenburg nach der Demontage Lauchas (1945) noch zu überdauern berufen war.“ Am 12. April besetzten amerikanische Truppen die Fabrik und gaben den Bestand an Zucker, Spiritus und Materialen zur Pfändung frei. „Nach dem Abzug der Besatzung bot der Betrieb einen trostlosen Anblick“, schreibt Selke.
Wie lange Rohrzucker in der Zuckerfabrik Vitzenburg produziert wurde
Die Zuckerfabrik Vitzenburg wurde 1946 ein volkseigener Betrieb. Rudi Bege, der mit seiner Familie aus dem Sudetenland nach Liederstädt kam, erhielt 1948 eine Anstellung als Elektriker (sein gelernter Beruf) in der Fabrik.
Er qualifizierte sich weiter und stieg schließlich in die Betriebsleitung auf. Um die 120 Mitarbeiter waren Mitte der 70er Jahren in der Fabrik tätig. „Es war körperlich schwere Arbeit“, sagt er. „Besonders beim Abfüllen und Schlammpressen, wo der Saft abgesondert wurde.“ Neue Maschinen zu bekommen, sei sehr schwer gewesen. „Wir mussten uns selber helfen.“ Bis 1972 wurde Rohzucker in der Fabrik produziert, später nur doch Dicksaft.
1991 kamen die Abrissbagger
In der Zeit kurz vor der Wende wurden Bege zufolge rund 1.000 Tonnen Zuckerüben am Tag verarbeitet. Die letzte Rübenkampagne wurde von Herbst 1990 bis Frühjahr 1991 durchgeführt. Am 30. Juni 1991 schloss die Fabrik - für immer. Alles musste dem Druck der Abrissbagger weichen. Heute existieren von der Zuckerfabrik nur noch Fotos und Erinnerungen. (mz)


