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„Kein Voralarm und kein Alarm, da kamen schon die Bomber geflogen“ Wie eine Kötzschauerin den Alliiertenangriff auf die Chemiefabrik in Leuna im Zweiten Weltkrieg miterlebte

Ein Himmelsbrief sollte Hanni Bergner bei Angriffen schützen. Eine Geschichte von Angst, von falscher Magie und den Schrecken des Krieges.

Von Jakob Milzner 01.09.2021, 16:30
Mit magischen und religiösen Formeln sollte dieser Schutzbrief das Leben seiner Trägerin behüten.
Mit magischen und religiösen Formeln sollte dieser Schutzbrief das Leben seiner Trägerin behüten. Foto: Milzner

Bad Dürrenberg/MZ - Kriegs- und Hungerjahre, eiskalte Winter voller Entbehrungen: Hanni Bergner hat in ihrem Leben viel Leid erfahren. Doch am nächsten kam sie der Hölle in den frühen Morgenstunden eines Apriltages im Jahr 1945. Wenig später sollten amerikanische Soldaten Kötzschau befreien, wo das damals elfjährige Mädchen mit ihren Eltern in einer Lehmhütte lebte.

„Dieser letzte Angriff. Da war kein Voralarm und kein Alarm, da kamen schon die Bomber geflogen“

Die heute alte Dame sitzt in einem Sessel in ihrer Wohnung in Bad Dürrenberg und erzählt gefasst von jener Zeit. Hin und wieder gestattet sie sich ein bitteres Lachen, wenn sie Sätze sagt wie: „Da ist ein ganzes Volk verarscht worden.“ Doch als sie von dieser einen Nacht berichtet, beginnt ihre Stimme zu zittern und der namenlose Schrecken der kleinen Hanni leuchtet in den Augen der heute 87-Jährigen auf.

„Dieser letzte Angriff. Da war kein Voralarm und kein Alarm, da kamen schon die Bomber geflogen.“ Es war der 5. April. Früh morgens begann der Angriff britischer Fliegerverbände mit einem eindeutigen Ziel: Das Chemiewerk in Leuna auszuschalten. Es gelang.

Ein vergilbtes Stück Papier als Kriegspropaganda

„Wir konnten nicht in den Keller. Da fielen schon die ersten Bomben“, erinnert sich Hanni Bergner.

Unser Haus wackelte. Meine Mama und ich lagen umklammert unter dem Küchentisch vor Angst. Es hätte ja nichts geholfen.

Hanni Berger, Zeitzeugin des Zweiten Weltkrieges.

Mehr als 75 Jahre später sichtete sie einen alten Ordner, in dem sie einen kleinen Umschlag fand. Darin lag, sorgfältig zusammengefaltet, ein vergilbtes Blatt Papier, beidseitig eng beschrieben mit der Handschrift eines jungen Mädchens. Es war ihre eigene Schrift. „Ich war damals zehn Jahre alt“, erzählt Bergner. „Nach so vielen Jahren habe ich den Brief wieder gelesen. Der reinste Horror. Schwindel, nur Schwindel. So haben sie die Leute veralbert.“

Brief baut bizarre Szenerie aus christlichen, magischen und historischen Elementen auf

Erneut zittert ihre Stimme, aber diesmal vor Wut. Mit „Haus oder Schutzbrief“ ist dieses Papier überschrieben, das Hanni Bergner so wütend macht. In dem Text, der darauf folgt, wird eine bizarre Szenerie aus christlichen, magischen und historischen Elementen aufgebaut.

Immer wieder fallen beschwörende Wendungen wie die folgende: „So wahr es ist, dass Jesus Christus auf Erden gewandelt und gen Himmel gefahren ist, so wahr ist es, dass jeder, der an diesen Brief glaubt, vor allen Gewehren und Waffen im Namen des lebendigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes unbeschädigt bleiben soll.“

Sicher ist, dass die zehnjährige Hanni den Brief damals abschrieb. Vermutlich zuhause, sagt sie, obwohl in ihrer Familie eigentlich niemand gläubig gewesen sei. Dennoch habe ihre Mutter ihr den Brief in den Bombennächten stets in einem kleinen Lederbeutel um den Körper gehängt. Und noch etwas ist sicher: Der Text, den sie abschrieb und mit den Rechtschreibfehlern eines zehnjährigen Mädchens versah, hat eine Geschichte, die deutlich länger zurückreicht als in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Himmelsbriefe: Alter Aberglaube

„Himmelsbriefe wollen schriftliche Offenbarungen des göttlichen Willens sein“, heißt es in einem „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“. Ihnen solle die Kraft innewohnen, „gegen Waffengewalt, vor Krankheiten, Feuersbrunst und andern Unfällen zu schützen.“ Laut einem „Lexikon für Theologie und Kirche“ reicht die Geschichte solcher Briefe bis ins sechste Jahrhundert zurück.

Auch Hanni Bergners Himmelsbrief beruft sich auf eine göttliche Herkunft. „Dieser Brief ist vom Himmel gesandt und in Gollstein gefunden worden“, steht darin. Und weiter: „Im Jahre 1724 schwebte er über der Taufe Magdalenas. Wie man ihn aber angreifen wollte, wich er zurück bis zum Jahre 1791, bis sich jemand den Gedanken machte, ihn abzuschreiben.“

Hanni Bergner
Hanni Bergner
Jakob Milzner

Himmelsbriefe als Schutz vor den Bombenattacken im Zweiten Weltkrieg

Bei „Gollstein“ handelt es sich vermutlich um einen Fehler. Richtig wäre wohl Holstein. Denn die sogenannten Holstein-Briefe tauchen zu Kriegszeiten immer wieder auf. Charakteristisch sind Beschwörungen, die Schutz vor Waffen bieten sollen. So berichtete ein preußischer Offizier in der Zeitschrift „Gartenlaube“ im Jahr 1871 von einem vorgeblich aus Holstein stammenden Brief, von dem seine Soldaten dachten, er mache unverwundbar. Auch im Ersten Weltkrieg trugen viele Soldaten solche Briefe am Körper.

Dann kam der Zweite Weltkrieg. Und wieder griffen die Menschen nach allem, was Schutz versprach. „Das war wohl damals im Umlauf“, sagt Bergner über den Himmelsbrief. „Den Inhalt habe ich damals gar nicht verstanden.“ Für sie war der Krieg nach jener Bombennacht im April vorbei. „Dann war Schluss“, sagt sie, und ihre Gesichtszüge entspannen sich. Doch ganz vorbei wird es für sie wohl nie sein. „Mittwochs sind hier immer Kontrollsirenen“, sagt Bergner. „Wenn wir die hören, das geht uns durch und durch. Für uns hat eine Sirene eine ganz andere Bedeutung. Nur Schrecken und Angst. Und das steckt in mir. Das geht nicht weg.“