Echte Nachbarschaftshilfe Rentnerin aus Schkopau betreut Mädchen mit Mukoviszidose

Schkopau - Auf ihrem grauen Pullover steht in Glitzerbuchstaben „beauty“ (schön). Lilly legt sich eine weiße Stola um den Hals und tänzelt vor dem Spiegel im Flur: „Ich bin die Schönste!“, ruft sie. „Und du bekommst den schönsten Mann“, erwidert Edeltraut Ernst lachend. „Lilly und ich, wir haben uns gesucht und gefunden“, sagt sie. Sie umarmt das Mädchen.
Ein Mittwochnachmittag in Schkopau bei Merseburg. Eine ruhige Reihenhaussiedlung, gepflegte Vorgärten. Hier wohnen Edeltraut Ernst, 66, und ihr Mann. Seit einigen Jahren betreut die Rentnerin regelmäßig Lilly, das Nachbarskind von gegenüber. Mindestens einmal die Woche ist das Mädchen da. Sie wächst bei ihren Großeltern auf. Beide arbeiten noch, sie sind froh um die Entlastung.
Edeltraut Ernst und Lilly - das ist Nachbarschaftshilfe, wie sie landauf landab zigtausendfach praktiziert wird. Aber hier geht es um mehr als um Spielen und Spazierengehen, Hausaufgabenhilfe und Kinobesuche.
Edeltraut Ernst muss darauf achten, dass es Lilly gut geht, dass sie ausreichend isst und sich ausruht, wenn sie müde ist. Sie muss wissen, was zu tun ist, wenn der nächste Schub kommt. Und manchmal besucht sie Lilly auch im Krankenhaus.
Unheilbar erkrannt
Lilly, zehn Jahre alt, leidet an Mukoviszidose, einer angeborenen Stoffwechselkrankheit. Ein Gendefekt führt dazu, dass ein zäher Schleim Atemwegs- und Verdauungsorganen verstopft. Lunge, Bauchspeicheldrüse, Leber und Darm sind besonders betroffen.
Die Folgen sind häufig chronischer Husten, Lungenentzündung, Verdauungsstörungen. Mukoviszidose lässt sich behandeln. Heilbar ist sie nicht. Der Bundesverband Cystische Fibrose - das ist der medizinisch Fachbegriff - gibt die durchschnittliche Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patienten mit rund 40 Jahren an. In Deutschland leben etwa 8.000 Menschen mit der Erkrankung.
„Ich trage eine riesige Verantwortung“, sagt Edeltraut Ernst.
Immer wieder quält Lilly sich mit Hustenanfällen, Erbrechen, hohem Fieber. „Die Schübe werden häufiger“, sagt Edeltraut Ernst. Allein im vergangenen Jahr war das Mädchen sechs Mal im Uniklinikum Halle-Kröllwitz, jeweils für mehrere Wochen.
Ihre Lunge ist angegriffen, ihr Immunsystem geschwächt. „Wenn wir einen Husten bekommen, bekommt sie eine Lungenentzündung“, beschreibt Klaus-Dieter Kuß, ihr Großvater. Lilly muss sich schützen, für alle Fälle hat sie immer einen Mundschutz dabei. Tragen sollte sie den etwa bei einer Grippewelle.
Dennoch geht Lilly zur Schule, wie gesunde Kinder auch. Sie besucht die vierte Klasse der Schkopauer Astrid-Lindgren-Grundschule, wegen ihrer vielen Klinikaufenthalte ist sie ein Jahr zurückgestuft worden. Ihr Lieblingsfach? „Mathe“, sagt sie, „Deutsch mag ich nicht so gern.“ Demnächst wird sie an eine Körperbehindertenschule in Halle wechseln, mit kleineren Klassen und intensiverer Betreuung.
Ein Nachmittag Anfang Januar, Lilly ist bei Ernsts. Es klingelt, sie springt vom Tisch auf, rennt zur Haustür. „Opa!“, ruft sie. Ihr Großvater ist gekommen, um sie abzuholen. Das 1.000-Teile-Puzzle, das sie mit Ernsts legen wollte, ist vergessen.
„Sie wird jetzt sowieso müde“, sagt Edeltraut Ernst. Es ist der zweite Schultag nach den Weihnachtsferien. Sieben Stunden Unterricht, die Hausaufgaben und die Erkrankung fordern ihren Tribut.
„Wir wollen sie nicht unter eine Käseglocke stecken“, sagt ihr Großvater, „sie soll doch ein Kind sein, mit ihren Freunden spielen.“ Die Einschränkungen für Lilly seien schon groß genug: Dreimal täglich muss sie inhalieren, um das Abhusten zu erleichtern.
Ein Dutzend Medikamente muss sie täglich einnehmen, Kuß, 58, kann sie aus dem Effeff aufzählen. Vitamintabletten. Schleimlöser. Ein Medikament, das dafür sorgt, dass pflanzliche und tierische Fette im Körper bleiben. Lillys Bauchspeicheldrüse arbeitet nur eingeschränkt. „Sie muss hochkalorisch essen“, erklärt ihr Großvater.
Edeltraut Ernst ist ein herzlicher Mensch, einer der Wärme ausstrahlt. Und schwer stillsitzen kann. Ihre Hände sind immer in Bewegung, unterstreichen jeden Satz mit einer Geste. „Ich bin hibbelig“, sagt sie von sich selbst, „ich muss immer was zu tun haben.“
Auch Lillys Familie ist engagiert
Also sucht sie nach neuen Aufgaben, als sie mit 60 in den Ruhestand geht, nach zwei Jahrzehnten als Sachbearbeiterin in der Ausbildung beim Chemieriesen Dow. Sie liest von einem Programm der Arbeiterwohlfahrt, die Paten für Familien sucht.
Es geht um Kinderbetreuung, Alltagshilfe. Sie meldet sich an, besucht ein Seminar. Sie wartet noch auf eine Patenfamilie, als sie mit Lillys Opa ins Gespräch kommt. Der sagt: Du kannst doch auch Lilly betreuen. Sie denkt: Warum nicht?
Ihre eigenen vier Enkel sind schon groß oder wohnen weit weg von Schkopau. Für Lilly kann Edeltraut Ernst noch einmal Oma sein, Zusatz-Oma gewissermaßen. Die leiblichen Großeltern, bei denen Lilly aufwächst, sind froh über die Hilfe. „So können wir auch mal etwas Freizeit haben“, sagt Kuß.
Seine Frau schiebt Schichten, als Köchin in einer Kita. Er arbeitet als Dispatcher beim Wachschutz von Infraleuna, zwölf Stunden Wechselschicht. Wenn er nicht arbeitet, ist da Lilly. Und seine zahlreichen Ehrenämter. Gerätewart bei der Feuerwehr. Boxtrainer der Kinder beim MSV Buna/Schkopau. Schiedsmann der Gemeinde. Noch etwas vergessen? Ach ja, im Gartenverein und im Förderverein für die Feuerwehr mischt Kuß auch mit. „Meine Einstellung ist: Ich kann nicht nur nehmen, ich muss auch was geben“, sagt er.
Die Zusatz-Oma kämpft für Lilly
Lilly ist zwei Jahre alt, als Edeltraut Ernst anfängt, sich regelmäßig um das Mädchen zu kümmern. Von Lillys Erkrankung ist da noch gar nichts bekannt. Vier Jahre später, sie ist sechs, stürzt sie beim Spielen im Kindergarten. Sie bricht sich den Arm, kommt ins Krankenhaus. Dort stellen die Ärzte schließlich die Diagnose: Mukoviszidose.
Edeltraut Ernst weiß noch genau, was sie damals gedacht hat: „Es tat mir in Seele weh für Lilly.“ Kurze Pause. „Ich bin doch so zart veranlagt.“ Woran sie nicht gedacht hat, als sie von der Diagnose erfuhr: ans Aufhören. „Mit keiner Silbe“, sagt sie energisch.
Lilly selbst erzählt von ihrer Krankheit wie andere Kinder vom Fußballtraining - mit einer für eine Zehnjährige erstaunlichen Abgeklärtheit. Als Edeltraut Ernst von den Krankenhausaufenthalten berichtet, schaltet sie sich ein: „Erst neulich war ich wieder vier Tage drin“, sagt sie und nimmt sich ein Stück Schokolade, „zur Bronchoskopie“. Ihr wurde ein Schlauch in die Luftröhre geschoben, um zähes Sekret aus der Lunge abzusaugen.
„Ich staune, wie sie ihre Krankheit mittlerweile angenommen hat“, sagt Edeltraut Ernst, „sie war erst neun, als sie das alles voll akzeptiert hat.“ - „Zehn“, korrigiert Lilly vorwitzig, Schokolade im Mund. - „Na gut, zehn.“
Ist Edeltraut Ernst in ihren Jahren mit Lilly schon einmal an den Punkt gekommen, an dem sie gemerkt hat: Ich kann nicht mehr? Lilly hat sich mittlerweile bäuchlings vor den Fernseher im Nebenzimmer auf den Fußboden gelegt.
Ernst senkt ihre Stimme: „Der Punkt ist jetzt da“, sagt sie. Der Rektor der Grundschule hat sie gebeten, als Begleitperson mit zur Abschlussfahrt der vierten Klassen zu kommen, für Lilly. „Ich möchte so gerne“, sagt ihr Herz. „Was ist, wenn gerade da etwas passiert?“ fragt der Kopf. „Ist die Verantwortung nicht doch zu groß?“
Nur eins weiß Edeltraut Ernst ganz sicher: „Soweit ich kann, möchte ich Lilly auf ihrer Reise begleiten.“ Wie lange Lillys Reise dauern wird, weiß niemand.
(mz)