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Für ein wenig Ruhm Für ein wenig Ruhm: Seit acht Jahren reist Jörg Härzer der Nationalmannschaft hinterher

Von Steffen Könau 23.06.2018, 13:00
Unübersehbar im Bild: Härzers „Leiha“-Banner diese Woche in Nischni Nowgorod.
Unübersehbar im Bild: Härzers „Leiha“-Banner diese Woche in Nischni Nowgorod. Jens Müller

Braunsbedra - Irgendwann ruft dann immer Oma Annemarie an. „Kleiner, ich habe deine Fahne gesehen“, sagt die 93-Jährige. Jörg Härzer lächelt. „Das sind die Momente“, sagt der 47-Jährige schmunzelnd, „da weiß man wieder, warum man so ein Hobby hat“.

Keins von der Stange, keins, das weniger erfordert als den ganzen Mann. Härzer, von Beruf Feuerwehrmann in der Leunaer Total-Raffinerie, ist ein Weltreisender in Sachen Fußball, ein Fan, der seine Liebe nicht am Fernseher auslebt, sondern in den Stadionkurven von São Paulo, Faro, Glasgow und Tiflis.

Jörg Härzer reist der Nationalmannschaft hinterher

Wo die deutsche Nationalmannschaft antritt, ist Jörg Härzer zur Stelle, ein Dauergast auf den Traversen der großen Fußballbühne, den sie daheim in Braunsbedra gar nicht aus den Augen verlieren können, so weit entfernt von Zuhause er auch gerade mit der deutschen Elf bangt, jubelt oder trauert.

Denn Härzer hat immer eine Fahne dabei, die rund um Merseburg und im Geiseltal einen ähnlichen Kultstatus genießt wie die berühmte Halle/S.Fahne nebenan in der größeren Saalestadt.

Seine LEIHA-Fahne gehört inzwischen zum Inventar

„Leiha“ steht in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Stück Tuch, das bei der Weltmeisterschaft in Russland vom Eröffnungsspiel an neben den Fahnen von Halle/S., Spenge, Urbach und Obi an den Stadionzäunen hängt.

„Leiha“, löst Härzer das Rätsel, was sein Fahnenaufdruck bedeutet, „ist der Ortsteil von Braunsbedra, in dem ich wohne.“

Eine einfache Wahl, damals vor zwölf Jahren, als Jörg Härzer wieder das spürte, was er „das Kribbeln“ nennt. „Ich habe mit 15 angefangen, mehr oder weniger regelmäßig zum Fußball zu gehen“, erzählt er. Die ersten Jahre galt die ganze Liebe des gebürtigen Merseburgers dem Halleschen FC.

Jörg Härzer war zunächst Stammgast beim HFC

„Da habe ich selten ein Spiel verpasst.“ Zusammen mit Freunden hat Härzer schon damals eine Fahne, die bei Auswärts- und Heimspielen aufgehängt wird: „HFC-Fanclub Braunsbedra“ ist Stammgast in den DDR-Oberligastadien.

Dann aber kommt der Abstieg des Traditionsvereins in die fünfte Liga, Jörg Härzer hat nun auch Familie und einen Job mit straffem Dienstplan. Der Fußball lässt den sportlichen Mann mit dem angegrauten Kurzhaarschnitt nicht los. „Ich bin dann viele Jahre zum SV Braunsbedra gegangen“, sagt er.

Mit der WM 2006 beginnt die DFB-Begeisterung

Die Fanjahre im Fußball-Unterhaus enden 2006 mit dem Sommermärchen bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land. Jörg Härzer ist wieder angezündet, zwei Spiele der DFB-Elf braucht es, bis er das „Kribbeln“ wieder fühlt.

„Ich dachte, eine Fahne muss her“, erinnert er sich, „Vorbilder gab es reichlich, denn an den Zäunen hingen ja schon Halle/S,. OBI, Weiler, Spenge und andere.“

Seitdem ist Jörg Härzer dabei, mit Leib und Seele und mit seiner Leiha-Fahne. Längst ist der Braunsbedraer festes Mitglied der deutschen Vielfahrergruppe, die sich selbstironisch die „Fahnenmafia“ nennt.

Und der Feuerwehrmann hat inzwischen halb Leiha mit dem Fußballfieber angesteckt. „Zu manchen Spielen sind da gleich mal 50 Leute im Reisebus unterwegs“, lacht er. Aus den etablierten Fahnenleuten, die für Härzer anfangs Idole waren, wurden Freunde.

Härzer schwärmt vom WM-Finale in Brasilien

Gemeinsame Erlebnisse schweißen zusammen: Das Finale der Weltmeisterschaft in Brasilien etwa, das Jörg Härzer nach einer mörderischen 72-Stunden-Anreise mitfiebernd, mitbibbernd und mitfeiernd mit dem DFB-Team erlebte. „Von Brasilien werde ich noch meinen Enkeln erzählen“, fasst er den Triumph vom Zuckerhut heute zusammen.

Wie die Männer unten auf dem Rasen sind auch die oben hinter den Fahnen eine Mannschaft mit einem gemeinsamen Ziel: Gesehen werden. „Es gibt keinen Konkurrenzkampf unter uns“, beschreibt Härzer aus dem Maschinenraum der Fahnenmafia, „aber eine Reihenfolge, wer wo hängt, je nachdem, wie es der immer zu knappe Platz zulässt“.

Allein in einer WM-Woche schafft die LEIHA-Fahne 7000 Kilometer

Wie viele Kilometer er schon gefahren und geflogen ist, um Leiha in irgendein Stadion irgendwo auf der Welt zu bringen, weiß Jörg Härzer nicht mehr. Zehntausende? Hunderttausende? Allein bei der WM in Russland steht der Familienvater nach einer Woche schon bei acht Spiele und mehr als 7000 Kilometern Strecke.

Er war in Moskau, in Ekatarinenburg, in Nischni Nowgorod, Saransk, Samara und dann wieder in Moskau. Er hat Gastgeber Russland, dessen Organisation er ebenso lobt wie die Freundlichkeit der Menschen, gegen Saudi-Arabien siegen sehen und Uruguay gegen Ägypten und er war natürlich dabei, als die deutsche Elf ihre Premiere gegen Mexiko vergeigte.

„Wir haben ein Debakel erlebt“, schildert er seine Empfindungen auf der Tribüne des Stadions in Lushniki. „Ich denke, es lag an der Arroganz der Mannschaft“, glaubt Jörg Härzer, „man hat wohl gedacht, als Weltmeister reicht's für Mexiko.“

Russland-Tour ist lange geplant - Ausscheiden geht nicht

Der Edelfan aus Leiha sieht schwere Zeiten kommen. Die Russland-Tour ist lange im voraus geplant, um an günstige Flüge, Bahnfahrkarten und Unterkünfte zu kommen. Eine Mission Titelverteidigung, die für Härzer und die anderen Fahnenfans schon vor Monaten begonnen hat und jetzt kein schnelles Ende brauchen kann.

Härzer nickt. Ja, dieses Hobby brauche viel Verständnis von Ehefrau Cornelia und Tochter Lea, aber auch von den Kollegen bei der Feuerwehr. „Die bekommen ja nicht frei, wenn ich vier Wochen durch die WM-Stadien toure.“

Viel Aufwand für ein bisschen Fahnen-Ruhm

Das alles, um eine Fahne aufzuhängen? Das alles „nur für das bisschen Ruhm und Freude, wenn das Spiel beginnt und das Handy nicht mehr stillsteht und Facebook ein Like nach dem anderen meldet“, wie Jörg Härzer selbst sagt? Ja, genau dafür.

Weil es Spaß macht. Weil man andere andere Länder ganz anders kennenlernt. Weil man ganz nahe dran ist, wo andere nur von weitweg zuschauen. Es ist ziemlich verrückt, mächtig teuer und unglaublich anstrengend, aber es ist auch wunderschön - spätestens in dem Moment, wo Oma Annemarie anruft und sagt, „Kleiner, ich habe deine Fahne gesehen!“ (mz)