Revisionsprozess Revisionsprozess: Ein Streit unter Nachbarn oder die Rache eines Nazis?
Halle/Halberstadt/MZ. - Für die Halberstädter Polizei war es von Anfang an ein Streit unter Nachbarn mit tragischem Ausgang gewesen. Um laute Musik sei es gegangen, hatte es in der ersten Pressemitteilung der Behörde geheißen. Das war am 30. April 2000. Da war Helmut S., der eine Woche zuvor seinen 60. Geburtstag gefeiert hatte, gerade zwölf Stunden tot.
Erstochen von Andreas Sch. - einem Nachbarn, der im Flur des Halberstädter Plattenbaus nach eigenen Angaben "in Todesangst" zum Messer gegriffen hatte. Kein Wort im Polizeibericht, dass das spätere Opfer nicht wegen irgendwelcher Musik mit dem jungen Mann aneinander geriet. Helmut S. hatte das Horst-Wessel-Lied aus dessen Wohnung dröhnen gehört.
Auch für die Richter des Magdeburger Landgerichts, die den Fall 2000 zu verhandeln hatten, war es am Ende ein Streit unter Nachbarn mit tragischem Ausgang gewesen. Der Rentner sei im Hausflur derart rabiat auf Sch. losgegangen, dass dessen Griff zum Messer als Notwehr zu werten sei. Einzige Zeugin: Die damalige Verlobte und heutige Ehefrau des Messerstechers. Kein Wort davon, dass die Polizei noch in der Tatnacht kartonweise Nazi-Musik, Nazi-Propagandahefte und Nazi-Videos in der Wohnung von Sch. beschlagnahmt hat.
Hätte der Bundesgerichtshof nach einem Revisionsantrag der Nebenklage nicht einen lapidaren Prozessfehler entdeckt, wäre das Magdeburger Urteil längst rechtskräftig. So aber muss die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Halle seit Dienstag den bereits mehr als vier Jahre alten Fall erneut aufrollen. Die Anklage lautet: Schwere Körperverletzung mit Todesfolge.
Diesmal lassen die Richter keinen Zweifel daran, dass sie nicht genau wissen wollen, welche Rolle das rechte Privat-Archiv des Angeklagten für den Fall spielen könnte. Aber auch Andreas Sch. ist gut vorbereitet. Während der Tatschilderung sagt der mittlerweile 32-jährige Angeklagte schon mal ungefragt aus, das spätere Opfer habe bereits früher einen von ihm im Hausflur abgestellten Beutel mit Schallplatten durchgeschaut: "Da war Marschmusik aus dem Zweiten Weltkrieg drin."
Soll das womöglich die Erklärung dafür sein, dass Helmut S. kurz vor dem tödlichen Streit die Polizei angerufen und mitgeteilt hat: "Bei uns im Haus werden Nazilieder gespielt, Horst-Wessel-Lied, ganz laut."? Andreas Sch. jedenfalls will an dem Abend nur unverfängliche Rockmusik abgespielt haben. Der ganze Nazi-Kram habe ihn ohnehin nur "musikalisch und nicht inhaltlich" interessiert. "Ich bin kein Rechter", so der Angeklagte.
Der bereits bis zum Dezember terminierte Prozess wird am kommenden Dienstag fortgesetzt.