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Ran an die Sau! Ran an die Sau!: Schlachtfest im einzigen Fleischer-Hotel Deutschlands

Von Ralf Böhme 16.03.2018, 21:45
Eichsfelder Wurstfabrikation ist fast ausschließlich Handarbeit. Nachdem das Tier ausgeblutet ist, schaben die Männer vor der weiteren Verarbeitung die Borsten ab.  Dabei erklingt das Rennsteiglied. 
Eichsfelder Wurstfabrikation ist fast ausschließlich Handarbeit. Nachdem das Tier ausgeblutet ist, schaben die Männer vor der weiteren Verarbeitung die Borsten ab.  Dabei erklingt das Rennsteiglied.  Andreas Stedtler

Eichsfeld/Dessau - Der Bauer schiebt, der Fleischer zieht. Sieben Zentner auf vier Beinen. Ein Schwein wie im Bilderbuch. Zehn Minuten Autofahrt liegen hinter ihm. Über zwei Bretter klettert es aus dem Hänger. Ausbüxen - ein Ding der Unmöglichkeit.

Männer mit weißen Gummischürzen stehen im Umkreis. Hoch die Rampe, und irgendwann steht das Tier auf blitzblanken Fliesen. Dann geht alles ganz schnell. Mit geübtem Griff nimmt Marco Fritsch den Fleisch-Koloss zwischen die beiden Elektroden. 2,3 Ampere und 230 Volt liegen an. Noch ein kurzes Quieken, ein letztes Zappeln. Jetzt sackt die Sau zusammen. Gewusst wie, ein Stich und das Blut strömt. Das Schlachtfest im ersten und einzigen Fleischer-Hotel Deutschlands beginnt.

Mehr als nur eine Sitte unterscheidet das ortsansässige Fleischer-Handwerk von der Arbeit großer Schlachthöfe und Metzgereien. Die Gegend zwischen dem Hainich-Nationalpark und der Wartburg-Stadt Eisenach gehört in Europa zu den wenigen Landstrichen, wo man die Wurst traditionell warm füllt. Das bedeutet: Die Verarbeitung erfolgt seit alters her stets in den ersten drei Stunden nach dem Töten des Tieres. Fritsch und seine Helfer sind überzeugt: Nur so bleibt das gute Fleischaroma erhalten.

Schlachtefest: Auch Florian Silbereisen reist nicht ohne Wurstpaket ab

Nicht nur Einheimische schwören darauf. Ein Blick auf die Kundenliste belegt Nachfrage aus ganz Deutschland. Und manche, die dort nicht vermerkt sind, lassen es sich gleichfalls schmecken. So taucht in größeren Abständen Schlagerstar Florian Silbereisen auf. Dass der Sänger und Moderator nicht ohne ein großes Wurstpaket abreist, ist selbstverständlich. Und so können Schlagerfreunde wohl sicher davon ausgehen, dass auch Deutschlands größter Stern am Schlagerhimmel den Spezialitäten etwas abgewinnen kann. Helene Fischer mundet beispielsweise die Bratwurst Eichsfelder Feldkieker. Wer hätte das gedacht?

Den Produzenten verwundert es nicht: „Bei uns ist Musik in der Wurst!“ Und das gilt in jeder Hinsicht, wie Helfer und Zuschauer - in diesem Fall ein Skat-Verein aus Dessau-Roßlau - bald bemerken. Nicht nur auf ihre Handreichungen für den Fleischer kommt es an. Auch die mit Nordhäuser Korn geölten Kehlen sind wichtig. Hängt das geschlachtete Tier am Haken, stimmt der Gastgeber an und alle singen: „Morgenrot, Morgenrot, unsere alte Sau ist tot. Aus den Borsten macht man Bürsten, und das Fleisch, es wird zu Würsten ...“ Mit einem scharfen Beil, das ein Haar in der Luft zerschneidet, teilt Fritsch den Korpus in zwei Hälften.

Schweineblut und Alkohol gehören zum Schlachten dazu

Das Schweineblut füllt mittlerweile zwei Eimer. Zu den Dingen, die nur ein ausgebildeter Fleischer machen kann, gehört das sachgerechte Entnehmen der Eingeweide: Herz, Lunge, Leber - sie glänzen und das ist gut so. Eine stumpfe Farbe würde für den Fleischbeschauer ein erster Hinweis darauf sein, dass mit dem Schwein etwas vielleicht nicht in Ordnung gewesen sein könnte. Aufgepasst, hochkonzentriert trennt Fritsch den Darm vom Fleisch.

Dabei ist seine größte Sorge: ein falscher Schnitt. Dann würde sich der stinkende Inhalt des Verdauungstraktes ergießen. Dazu kommt es glücklicherweise nicht, auch wenn der Dessauer Schlachthelfer und Skatbruder Bernd Baltrog ulkt: „Fangen die Därme an zu stinken, muss der Fleischer etwas trinken!“ Doch der Alkohol muss noch warten. Erst erfüllt ein zünftiges Lied den Raum: „Hilfe, die Kneipe brennt“, heißt die Zeile. Alle johlen. Der Spaß ist groß.

Routiniert werden die Gedärme durch ein Wasserbad gezogen. Dann kommen sie in eine Kühlkiste. Das ist Helferarbeit für Hans-Jürgen Grosch. Der Halberstädter besitzt, wie er sagt, bereits Schlachthauserfahrung. So weiß er, dass nicht nur in Heyerode Schweinedärme gesammelt werden. Und das ist ihr weiterer Weg: Das Material gelangt alsbald nach China. Dort erfolgt eine penible Reinigung. Als aufbereitete Naturdärme für die Wurstherstellung geht es dann retour nach Europa. Einzelheiten bleiben zwar im Dunkeln. Aber offensichtlich rechnet sich das Ganze. Und auch die Eichsfelder Fleischer nutzen diese Gelegenheit, über diesen Umweg schmutzige Kleinarbeit und etwas Geld zu sparen.

Hygienisch gibt es am traditionellen Verfahren der Hausschlachtung keinerlei Bedenken, wie kontrollierende Tierärzte immer wieder bestätigen. So auch heute. Die Umstände sind bekannt, die vorgeschriebenen Proben genommen. Das Spektakel darf in die nächste Runde übergehen. Nun zu Beginn der zweiten Stunde im Schlachthaus werden beide Schweinehälften nach allen Regeln der Kunst in handliche Stücke zerlegt. Profis wissen natürlich, wo sie ansetzen müssen, um beispielsweise Schulter oder Hüftstücke am Gelenk sauber zu lösen. Mit Billig-Messern wäre das nicht zu schaffen. Besseres Werkzeug, heißt es in der Runde, überstehe ohne Nachschärfen vier bis fünf Hausschlachtungen.

Beachtliches Pensum: Knapp 300 Kilogramm Fleisch werden verarbeitet

Bei den Gelegenheitsfleischern, die in Heyerode unter Anleitung arbeiten, dauert es schon deutlich länger. Aber die Zeit läuft. Das Pensum ist beträchtlich. Schließlich geht es um knapp 300 Kilogramm Fleisch, aufgeteilt in eine Menge zum Kochen und einen etwa gleich großen Teil, der gleich für den Fleischwolf gedacht ist. Spätestens am Ende des Tages ist grenzenlose Vielfalt dann auf dem Gaumen erlebbar: Wellfleisch, Rotwurst, Leberwurst, Sülze, Mettwurst.... Und die Knochen? Auch daraus lässt sich noch etwas Gutes machen, mindestens eine Suppe. Gering fallen die Schlachtverluste allemal aus. Der Fleischer beziffert ihn im niedrigen zweistelligen Zahlenbereich. Unterm Strich bleibt nicht viel übrig vom riesigen Mastschwein.

Sind die nächsten Aufgaben verteilt, so weiß Hausherr Marco Fritsch aus Erfahrung, dann öffnet sich ein kleines Zeitfenster. Er nutzt diese Pause, um im gläsernen Wurstreiferaum nach dem Rechten zu schauen. Dort hängen die bis zu 5.000 Bratwürste, vor allem die etwa 30 Zentimeter langen Eichsfelder Feldkieker-Bratwürste. Ihr Aroma wächst bei zehn Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent. Das Klima bleibt über sechs bis zehn Monate gleich. Der Weg zurück ins Schlachthaus führt dann geradewegs durch das Fleischerei-Museum, ein spezieller Mix aus Heimatstube und Gruselkabinett. Zu den dort ausgestellten Utensilien gehört unter anderem ein Bolzenschussgerät - zu DDR-Zeiten das Mittel zum Zweck, um Schlachttiere zu töten.

„Herbert Roths Lieder und unsere Wurst, das passt!“

Die gleiche Wirkung lässt sich mit den daneben platzierten Dorn und Holzhammer erzielen, die zu Urgroßvaters Zeiten üblich gewesen sind. Weniger gruselige Geschichten verbinden sich mit der urigen Flaschensammlung aus 100 Jahren Nordhäuser Doppelkorn. Erzählen kann sie wohl am besten der Senior-Fleischer Herbert Fritsch. Obwohl der 76-Jährige den Ruhestand genießt, hält es den Handwerker nicht lange daheim. Ist Schlachtfest angesagt, taucht der Alte früher oder später mit seinem Akkordeon auf und heizt die Stimmung an. Es ist ein historisches Instrument und deshalb von hohem Sammlerwert.

Das spielt in diesem Moment aber keine Rolle. Jetzt greift der Volksmusikant - während der Kessel für die Rotwurst bereits 80 Grad anzeigt - erst einmal in die Tasten. „Ein Stern, der deinen Namen trägt“ erklingt. Nun klatschen die Fleischer im Rhythmus mit - und stoßen an. Und der Kirmeswalzer lässt eine selige Stimmung aufkommen, die in der Hektik des Alltags sonst nicht aufkommt. Die musikalische Zeitreise endet erst mit einer besonders schwungvollen Version des Rennsteigliedes. Sein Erfinder Herbert Roth hätte seine Freunde daran.

Fritsch, der Senior, ruft: „Herbert Roths Lieder und unsere Wurst, das passt!“ Beides stehe für Thüringen, bodenständig und einer langen Tradition verpflichtet. Was nichts anderes heißt, die singenden Fleischer haben ein weiches Herz unter ihrer rauen Schale. Auch wenn man es ihnen nicht auf den ersten Blick ansieht, mit den zahllosen Blutspritzern auf den Gummistiefeln, an der Jacke. Ob immer alle lachen können, wenn ein gerade vom Schweinekopf abgeschnittenes Ohr für derbe Späße herhalten muss, darf freilich bezweifelt werden. Was jedoch feststeht: Trauerklöße sind hier nicht am Werke.

Blut rühren und Wurstsuppe verkosten gehört zum Ritual des Schlachtfestes

Diese schräge Art von Fröhlichkeit ist der wichtigste Grund, weshalb Nachbar Maik Peterseim das Schlachten trotz des immer gleichen Ablaufs nie langweilig findet. „Hundertmal habe ich schon dabei geholfen, ein Gaudi war es allemal.“ Szenenapplaus ist dem Schwergewicht beispielsweise sicher, wenn er mit seinen kräftigen Armen die aus dem Fleischwolf gequetschte, immer noch handwarme Masse durchwalkt. Nach und nach füllt sich dabei die große Zinkwanne bis an den Rand. Rot-weiße Fleischberge sind zu bewegen. Wer es vorher noch nicht weiß, bekennt danach: Kein Zweifel, es braucht sehr viel Kraft in diesem Job. Schwerstarbeit!

Blut rühren, damit es nicht stockt. Oder einfach nur die Wurstsuppe verkosten und abfüllen. Gastgeber Fritsch achtet wie ein guter Herbergsvater darauf, dass keiner zu kurz kommt und möglichst jeder seiner Helfer seinen Solo-Auftritt absolvieren kann. So übernimmt Stefan Mauter, von Haus aus ist er Tischler, das Würzen. Die genaue Zusammensetzung der kräftig duftenden Mischung ist ein Betriebsgeheimnis. Doch der Mann besitzt Show-Talent. Mit der Geste eines Dirigenten verteilt er Pfeffer und Salz und andere Zutaten, die die Eichsfelder als ihr größtes Wurst-Geheimnis hüten.

Auf Borstenvieh und Schweinespeck als idealen Lebenszweck! Zum Ritual eines Schlachtfestes, das vor einigen Jahrzehnten auf dem Lande auch in Sachsen-Anhalt weit verbreitet gewesen ist, gehört in Heyerode die Zugabe von Branntwein an das Gehackte. In diesem Fall handelt es sich um den Inhalt eines Fläschchens hochprozentiger „Goldkrone“, einem Verschnitt mit beinahe legendärer Ost-Vergangenheit. Danach befragt, zweifeln die Mitglieder des Skatvereins aus Sachsen-Anhalt nicht einen Moment daran, dass diese Gabe die Fleischerzeugnisse schmackhafter machen kann.

Essen ist eben nicht nur das Wissen um einen gut gefüllten Magen, sondern vor allem Gefühl. Und in dieser Kategorie ist der Meinung der Gäste aus Dessau-Roßlau, dass die Thüringer Rostbratwurst die Königin sämtlicher Fleischwaren sei, wohl nichts mehr entgegen zu setzen. Zumindest die Skatbrüder im Erlebnishotel „Zum Eichsfelder Fleischer“ sind sich da ganz sicher: Millionen glücklicher Esser können sich nicht irren!  (mz)

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