Prognose Altmark 2050 Prognose Altmark 2050: Miteinander trotz abnehmender Bevölkerung

Halle/MZ. - Sachsen-Anhalt im Jahr 2050 - wie gestaltet sich das Leben angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung? Eine Projektgruppe des Bauhauses Dessau hat drei Szenarien entwickelt. Heute stellen wir das Konzept für die Altmark vor, eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Erarbeitet wurde es vom Diplom-Geografen und Stadtplaner Jürgen Aring. Er lehrt Raumwirtschaftspolitik an der TU Dortmund und ist Inhaber des Büros für Angewandte Geographie in Meckenheim bei Bonn. Den Text schrieb die Architektin Kerstin Faber, Inhaberin des Projektbüros Franz Faber.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass in der Altmark derzeit nur gut 200.000 Menschen leben und die Bevölkerungszahl weiter sinkt. Die Bevölkerungsdichte ist mit 50 Einwohnern pro Quadratkilometer sehr gering. Der demografische Wandel werde zu einer großen Herausforderung, „wenn zum Beispiel Schulen in der Fläche geschlossen werden, Landarztpraxen nicht nachbesetzt werden können, Feuerwehren nicht mehr einsatzfähig sind, Dorfgemeinschaftshäuser und Sportanlagen nicht mehr finanziert werden können, die Kosten für den Betrieb leitungsgebundener Infrastruktur steigen und der eh schon spärliche Busverkehr nicht mehr gehalten werden kann“, schreibt Aring im Buch „Raumpioniere in ländlichen Regionen“. Um die Versorgung aufrecht zu erhalten, bedürfe es neuer oder zumindest ungewohnter Lösungen.
Im Szenarium für die Altmark hat Aring den Gedanken umgesetzt, dass es in dünn besiedelten Gebieten „Garantiezonen“ geben muss, „in denen es sich trotz aller Veränderungen weiterhin so leben lässt wie auch im Rest des Landes“. Daneben stehen Gebiete, die den Menschen, die dort leben, „individuell mehr Selbstverantwortung abverlangen“. Aring nennt sie „Selbstverantwortungszonen“. Wie sie funktionieren zeigt das folgende Szenarium.
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Samstagvormittag im Jahr 2050. Aus Berlin mit der Bahn kommend, erreichen wir den Hauptbahnhof Stendal eine halbe Stunde später. Unser Ziel ist die Kulturinsel Havelberg, ein von Bewohnern, Künstlern und Unternehmen der Stadt getragenes Projekt.
Preise praktisch auf Null gesenkt
Wir warten auf den Bürgerbus. Tim Werner, von Beruf Elektromechaniker, hat heute Busdienst. Er stammt aus der Hauptstadt. 2020 zog er von Berlin in den Norden der Altmark, um dort eine Servicewerkstatt für Elektromotoren aufzubauen. Als Hauptstädter fand er keinen bezahlbaren Raum in der Nähe seiner Wohnung. Mit zwei kleinen Kindern wollten er und seine Frau nicht jeden Tag Stunden in Berlin unterwegs sein, um das Familienleben zu organisieren.
Für die Altmark entschieden haben sich die Werners aus mehreren Gründen. Der Leerstand an Häusern auf dem Land hatte die Preise praktisch auf Null gesenkt; für das großzügige Grundstück erhielt Werner sofort die Erlaubnis zum Ausbau der Scheune als Werkstatt; die beiden Kinder kamen umgehend in den Freien Kindergarten der Dorfstation und Werners Frau, freiberufliche Programmiererin, hat dank Breitband-Satelliten-Empfang Anschluss an die Welt. Den Strom gewinnt und verwaltet die Gemeinde selbst. In Werners Fall schloss man ihn direkt an das kleine Wasserwirbelkraftwerk an, das seine Werkstatt und Ladestation für Elektroautos gleich mit versorgt. Überschüsse speist die Gemeinde ins Netz; von den Einnahmen werden soziale Projekte unterstützt. Entschieden haben sich die Werners trotzdem nicht sofort. Denn nicht nur die Strom-, Wasser- und Abwasserversorgung wird unter Beachtung von Umweltauflagen auf dem Land dezentral realisiert.
Der Kindergarten ist heute von den Bewohnern ebenfalls selbstorganisiert, in Kooperation mit dem Regionalmanagement Altmark auch die Grundschule, das öffentliche Busnetz, der Abfalltransport und der Winterdienst. Vorbild ist das Prinzip der Freiwilligen Feuerwehr. Für Werner bedeutet das, dass er nicht nur jeden zweiten Samstag den Bürgerbus fährt. Er übernimmt auch einmal pro Monat mit seinem Nachbarn den Mülldienst.
Warum nicht jeder seinen Müll selber wegfahren kann? Es gibt viele Alte, die nicht in der Lage sind, sich darum zu kümmern. Deshalb kümmert man sich in der Gemeinschaft darum. Die Alten wiederum helfen bei der Betreuung im Kindergarten. „Und die Schule?“, wollen wir wissen. Es gibt Freie Grundschulen mit unterschiedlichen Gruppengrößen von der ersten bis dritten und von der vierten bis sechsten Klasse. Probleme mit der Gewinnung von Lehrern haben die Elterninitiativen nicht; Freie Schulen sind wegen der kleinen Gruppengrößen und des freien Lehrplans attraktiv. Die Nachmittagsbetreuung samt Nachhilfe übernehmen dann wieder die Alten. Das hilft den Eltern, die ganztägig arbeiten. Die Großen gehen auf die Gemeinschaftsschule der Stadt.
„Man muss hier leben wollen“
„Man muss hier leben wollen“, unterbricht Elli Trauber. Sie ist Rentnerin und in der Altmark geboren. Ihre Eltern arbeiteten zu DDR-Zeiten in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). In den meisten Dörfern war die LPG der wichtigste Arbeitgeber, der auch die Kindergärten und Konsumbetriebe organisierte. Nach der Wende zerbrach die alte Ordnung. Der Konsum, Lebensmittelmarkt und Zentrum der Dorfgemeinschaften, verschwand als erstes. Dann ging die Jugend. Zwischen 2004 und 2009 wurden in der Altmark 18 Grundschulen, 16 Sekundarschulen und fünf Gymnasien geschlossen. Im Bereich der medizinischen Versorgung sah es nicht besser aus. Die Hansestadt Stendal prognostizierte für Teile der Altmark eine Schrumpfung der Bevölkerung von bis zu 50 Prozent. Staatlich organisierte Versorgungsstrukturen konnten in der Fläche schon damals nicht mehr nach den gewohnten Standards aufrechterhalten werden. Das traf nicht nur die Dörfer, sondern auch die Kleinstädte, die die Versorgungszentren des ländlichen Raums darstellten. Die ersten Bürgerinitiativen entstanden. „Wir mussten einfach lernen, uns neu zu organisieren“, erzählt uns Elli.
Schritt für Schritt bauten die Initiativen in Kooperation mit dem Regionalmanagement Altmark und den Gemeinden neue Versorgungsnetzwerke auf. So entstand auch die erste Dorfstation, die genossenschaftlich betrieben und von Landwirten der Region beliefert wird. Bald folgten ein Dutzend weitere Stationen, oft in Nachbarschaft zu den Kitas oder in Verbindung mit den Freien Grundschulen, die mittags von der Dorfstation versorgt werden. Ein Arztraum, der einmal pro Woche von mobilen Ärzten der Medizinischen Versorgungszentren in der Altmark besetzt wird und über Telemedizin mit den städtischen Krankenhäusern verbunden ist, gehört mittlerweile genauso zur Grundausstattung wie die Post. Einige Dorfstationen unterhalten zusätzlich ein Café, andere haben eine kleine Apotheke, betreiben einen Lieferdienst oder bieten Platz für Vereinstreffen. Der Bürgerbus hat seine Haltestellen den zentralen Stationen zugeordnet. „Viele Dörfer und Weiler sind seit dem Tod der älteren Bewohner aber auch verlassen. Wer dort in Zukunft leben möchte, ist auf sich allein gestellt“, ergänzt Werner.
Der Bus hält an der Dorfstation in Iden. Elli muss aussteigen. Sie betreut das Projekt Generationscafé. Es wird einmal im Monat von Jugendlichen an wechselnden Orten organisiert. „Eine Art Jugendfeuerwehr, nur mit Kaffee und Kuchen“, lacht sie. Vor über 50 Jahren wurde das Projekt von der Bürgerinitiative Stendal ins Leben gerufen, die auch die Pflege von Demenzkranken in der Altmark begleitet. Elli ist von Beginn an dabei. Was sie dafür bekommt? Selbstkompetenz. Und die Chance, hier auch in Zukunft gut leben zu können.
Wir kommen in Havelberg an. Die damals von Leerstand gezeichnete Stadtinsel ist mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes als Kulturinsel überregional bekannt geworden. Neben der Organisation von Veranstaltungen und Ausstellungen vergibt der örtliche Förderverein Aufenthaltsstipendien an Künstler und Kulturschaffende; manche sind geblieben. Wir wollen zum jährlichen Sommerfestival und stürzen dem Kulturevent entgegen. „Vergesst nicht den Bus um acht Uhr, das ist der letzte zurück nach Stendal“, ruft uns Werner noch schnell hinterher. Ob wir schon heute zurück nach Berlin wollen, wissen wir allerdings noch nicht.

