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Pretziener Wehr Pretziener Wehr: Hochwasser-Tourismus

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 16.01.2011, 19:12

PRETZIEN/MZ. - Der Platz am Ufer ist eine einzige Schlammwüste. Doch das stört niemanden. Hunderte sind nach Pretzien südlich von Magdeburg gekommen, um zu sehen, wie der Elbe-Umflutkanal anschwillt. Hochwasser gucken - das ist normal in diesen Tagen. Im ganzen Land. Doch in Pretzien ist es besonders spannend: Dort wird am Samstagmorgen das Pretziener Wehr geöffnet. Wassermassen aus der Elbe können so in den Kanal strömen, damit sollen Magdeburg, die Nachbarstadt Schönebeck und einige Gemeinden von den Fluten entlastet werden. Das passiert nur alle paar Jahre, wenn der Wasserstand der Elbe an der Sechs-Meter-Marke kratzt. Das letzte Mal war das im Frühjahr 2006 der Fall.

Die Wehröffnung zieht regelmäßig Scharen von Schaulustigen an. Die enge Wohnstraße, von der aus ein wenige hundert Meter langer Weg auf einem Deich zu der Anlage führt, ist zeitweise komplett zugeparkt. Immer wieder kommen Neugierige den Deichweg entlang, viele mit Kindern. Kameras und Handys klicken. Dabei ist zunächst gar nicht so viel zu sehen. "Das ist ja eher unspektakulär", findet Matthias Akkermann, Enttäuschung in der Stimme. Der Student der Wasserwirtschaft ist mit Eltern und Freunden aus Magdeburg gekommen. Nun stellt er fest: "Das sind nicht gerade Massen, die aus dem Wehr schießen."

Warum, erklärt Christian Jung, Flussbereichsleiter beim Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW): Das Wehr könne nur in kleinen Abschnitten gezogen werden. Würde das Wasser mit einem Schlag abfließen, bestehe die Gefahr, dass es in seiner Wucht den Untergrund ausspüle. Also gehen Jung und seine Leute langsam vor: Jede der 324 stählernen Wehrtafeln wird einzeln gezogen. Schwere Arbeit: Eine Tafel misst etwa 80 mal 100 Zentimeter und wiegt 100 Kilogramm. Mit einer auf Schienen fahrenden, motorbetriebenen Seilwinde ziehen LHW-Mitarbeiter Bauteil um Bauteil hoch auf die Wehrkrone und verankern es an der Seite. Vier Männer sind für diese Prozedur nötig. Auf der Wehrkrone geht es eng zu, die Schaulustigen müssen deshalb am Ufer bleiben.

Dorthin kommen noch immer Neugierige. Ein findiger Geschäftsmann hat einen Stand aufgebaut, es gibt Bratwurst, Bier, Kaffee und Limo. Hansjörg Berninger hält eine leere Plastiktasse in der Hand, wie lange er bleiben will, weiß er noch nicht. Warum er hier ist? "Die Technik beeindruckt, das wollte ich mir anschauen", sagt er. 67 Jahre alt ist er, aber wie das Wehr gezogen wird, hat er noch nie verfolgt. Dabei wohnt er ganz in der Nähe, in Wahlitz. "Ein paar Dörfer weiter", sagt er und deutet mit dem rechten Arm unbestimmt über die riesige Wasserfläche, zu der der Umflutkanal bereits angeschwollen ist.

Mit Umstehenden spekuliert der Rentner, wie das Hochwasser sich entwickeln wird. In seinem Heimatort haben die Deiche bisher immer gehalten. Aber diesmal? Student Matthias Akkermann befürchtet indes schlimme Folgen für elbabwärts gelegene Ortschaften: Hinter Magdeburg mündet der Kanal wieder in die Elbe. "Dann bekommen die in der Altmark die ganzen Wassermassen ab."

In Magdeburg immerhin sei aufgrund der Wehröffnung der Pegelstand der Elbe bis Sonntag um 25 Zentimeter auf 5,25 Meter gesunken, sagt LHW-Chef Burkhard Henning: "Der gewünschte Effekt ist eingetreten." Wie lange das Wehr offen bleiben muss, das kann aber noch niemand sagen. Erst wenn der Wasserstand am Pegel Barby unter die Marke von 5,35 Meter gefallen ist, so Flussbereichsleiter Christian Jung, kann das Wehr wieder geschlossen werden. Am Sonntagmorgen steht der Fluss dort noch bei 5,82 Meter.

Jung, seit 38 Jahren im Geschäft, hat schon knapp ein Dutzend Wehröffnungen in Pretzien mitgemacht. Routine, sagt er, stelle sich trotzdem nicht ein: "Jedes Hochwasser ist anders." Jetzt macht ihm zum Beispiel Sorgen, dass noch etliche Eisschollen vor dem Wehr treiben. Sie könnten Bauteile beschädigen. Mit der Öffnung lassen sich die Männer deshalb mehr Zeit als üblich. Sie warten ab, bis Schollen im wärmeren Wasser tauen oder sich aufspalten. Erst gegen 16 Uhr ist das Wehr komplett geöffnet, zwei Stunden später als geplant. Rund 800 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schießen nun in den Kanal. Viele Schaulustige sind da aber längst wieder auf dem Heimweg.