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Pretzien Pretzien: Emotionales Zeichen gegen Schandtat

Von Kai Gauselmann 13.07.2006, 18:38

Schönebeck/MZ. - In unzähligen Debatten und politischen Streitgesprächen hatte Regierungschef Wolfgang Böhmer (CDU) stets seine Emotionen im Griff; doch Berufsschüler in Schönebeck rührten den 70-jährigen gestern sichtlich, mit einem selbst gedrehten Film. Tränen standen ihm in den Augen, wie der Ministerpräsident hinterher einräumte. "Ich bin froh, dass ich nach diesem Film nichts sagen musste", sagte er.

Tagebuch vorgelesen

Eigentlich war er ja in die Berufsschule Schönebeck gekommen, um seinerseits die gut 200 Schüler zu bewegen. Anlass waren die Vorfälle im nahen Pretzien vor drei Wochen. Rechtsextremisten hatten bei einer Sonnenwendfeier ein Exemplar des "Tagebuchs der Anne Frank" und eine US-Fahne verbrannt, die Ermittlungen gegen sechs Tatverdächtige wegen Volksverhetzung laufen noch. "Die Verbrennung eines Buches, das quasi zum Weltkulturerbe zählt, ist eine Schandtat", sagte Böhmer gestern.

Dagegen wollte er - unter anderem zusammen mit dem amerikanischen Generalkonsul Mark D. Scheland, Landtagspräsident Dieter Steinecke (CDU) und Schauspieler Peter Sodann - ein Zeichen setzen. Sie lasen aus dem Tagebuch des jüdischen Mädchens vor, das 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen (heute Niedersachsen) mit 15 Jahren an Typhus starb.

Bewegende Bilder

"Es war sehr ergreifend", bedankte sich die Schülerin Monika Otte bei den Vorlesern. Sie nannte die Pretziener Vorfälle unverständlich, machte aber klar, dass die Berufsschüler nicht von der Tragweite der Untat überzeugt werden mussten, sich längst und intensiv mit dem Holocaust beschäftigt haben.

Einige Schüler hatten das KZ Majdanek besucht. Besonders beeindruckt haben sie die vielen dort aufbewahrten Kinderschuhe; in Majdanek wurden schätzungsweise 18 000 Kinder vergast und verbrannt, nur ihre Schuhe blieben. Die Schüler haben für einen Film, der Böhmer so rührte, das Gedicht "Kinderschuhe aus Lublin" von Johannes R. Becher vertont ("Zu hundert, nackt in einer Zelle / Ein letzter Kinderschrei erstickt") und zeigten Bilder des Lagers und der vielen Kinderschuhe.

Erst das Buch, dann der Film - es waren sehr emotionale Stunden in der Schönebecker Schule. Wie Böhmer erklärte, war das nötig und beabsichtigt; damit die Botschaft klar und das gemeinsame Zeichen gegen Rechts deutlich werden konnte. "Das sollte emotional werden", sagte er, "denn wer das Hirn der Menschen erreichen will, der muss zuerst das Herz erreichen."