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Was macht das mit einer Stadt? Nach dem Anschlag in Halle Saale: Was macht eine Bluttat mit einer Stadt? Halle ringt um Fassung und Zusammenhalt

Von Christian Eger 10.10.2019, 21:30
Halle am Mittwochabend nach Aufhebung der Amoklage: Erstes Stilles Gedenken auf dem Marktplatz. Ein zweites fand am Donnerstagabend statt. 
Halle am Mittwochabend nach Aufhebung der Amoklage: Erstes Stilles Gedenken auf dem Marktplatz. Ein zweites fand am Donnerstagabend statt.  dpa

Halle (Saale) - Es gibt kein Danach. Wir sind mittendrin. Auch am Tag nach der Gewalttat in Halle gibt es keine gesellschaftlichen Routinen. Nicht in der Stadt, nicht in Sachsen-Anhalt, nicht in Deutschland. „Anschlag auf Halle“ titelte die Mitteldeutsche Zeitung am Donnerstag. Die Zeile war richtig gewählt.

Nicht Anschlag „in“, sondern „auf“. Denn die Bluttat traf und trifft alle, die in dieser Stadt leben und leben wollen. Und die nach der Logik des Mörders nicht so leben sollen, wie sie leben. Die zwei Menschen, die ermordet worden sind. Die zwei, die schwer verletzt wurden. Die 51 Menschen in der Synagoge im Paulusviertel, die getötet werden sollten.

Unter Nachbarn

51 Menschen in einem winzigen, hinter einer Friedhofsmauer versteckten Gotteshaus, von dem viele Hallenser gar nicht wussten, dass es das gibt. Keine ursprüngliche Synagoge, sondern eine nach dem Holocaust umgewidmete Friedhofshalle. Dieser Anschlag galt eben nicht einem repräsentativen Gebäude, keinem weithin bekannten Platz, sondern einer fast unsichtbaren Nische in einem dicht besiedelten Quartier: Humboldtstraße, Goethestraße, Ossietzkystraße. Ein Ort der bürgerlich-studentischen Behaglichkeit. Unter Menschen, die Nachbarn sind. Mittendrin im Alltag. Dem galt der Anschlag.

Die jüdische Gemeinde mit ihren Einwanderern aus Russland und aus der Ukraine gehört dazu, auch wenn sie in Halle wenig auffällt. Dass diese winzige Synagoge nicht mit Polizeischutz versehen wurde, wird jetzt kritisiert. Nicht zu Unrecht. Aber nicht nur. Der Umstand, dass die Synagoge bislang nicht eigens geschützt werden musste, zeigt auch eine zivile Qualität des halleschen Alltags. Die ist zerstört. Vielleicht nur vorläufig, vielleicht für lange Zeit.

Über Stunden wurde diese Normalität am Mittwoch eingefroren. Halle glich einer Geisterstadt. Von 12.48 Uhr an währte die Amoklage. Die Einwohner verließen ihre Häuser auf eigene Gefahr. Geschäfte und öffentliche Einrichtungen schlossen. Erst um 19 Uhr nahm der Hauptbahnhof wieder den Zugverkehr auf.

30 Jahre nach 1989

Die Innenstadt blieb länger wie leergefegt liegen. Noch am Abend glich das Gelände zwischen Riebeckplatz und unterer Magdeburger Straße einem Heerlager der Polizei. Fahrzeuge standen kreuz und quer auf Rasenflächen und Bürgersteigen. Schützenpanzerwagen dazwischen. Wer an den Sammelpunkten vorbeikam, war sein eigener Geisterfahrer.

Was macht das mit einer Stadt? Beinahe jeder Hallenser wird nach der Tat telefoniert, er wird diskutiert, vielleicht auch geschwiegen haben. Das Problem steht ja: Wie spricht man über ein so monströses Geschehen? Betroffen, sachlich, sarkastisch?

Worte können Geländer bieten. Um die geht es zuerst. Und um Gesten, die dort Geländer bieten, wo die Worte fehlen. Wie auf dem halleschen Marktplatz, wo sich zuerst am Mittwoch- und dann noch einmal am Donnerstagabend Hunderte Menschen zum Gedenken versammelten.

Ein Gedenken, das sich am Mittwoch genau an jenem Abend ereignete, an dem 30 Jahre zuvor an gleicher Stelle die Polizei die erste Protestdemonstration niedergeknüppelt hatte. Ein Ereignis, an das in der Marktkirche erinnert werden sollte. Die Veranstaltung wurde abgesagt. Damals wie heute ringt die Stadt um Fassung und Zusammenhalt.

30 Jahre nach 1989 leben wir in einer Welt mit anderen Mächten, anderen Bedrohungen. Die Bluttat zeigt eine Gesellschaft, die zu zerreißen droht, in der sich Menschen unansprechbar in ihr eigenes Gehäuse zurückziehen. Ihr Inneres kaum noch verlassen. Und die Welt wahrnehmen wie ein Computerspiel. Dass die seelische Verwahrlosung sich aus dem Internet in die Wirklichkeit überträgt, ist kaum zu bezweifeln. Nicht das Töten bereitete dem Mörder Sorgen, sondern dass die Bilder vom Töten nicht umstandslos ins Internet gelangten.

Raus aus der Amoklage

Reden ist Handeln. Schreiben ist Handeln. Und enthemmtes Reden bereitet enthemmtes Handeln vor. Heute geschieht das sehr schnell. Deshalb ist es so wichtig, nicht die zivilen Routinen zu verlieren. Nicht der Angst den öffentlichen Raum einer Stadt preiszugeben, deren Qualität sich für Außenstehende oft erst auf den zweiten Blick zeigt.

Jetzt schlägt wieder die Stunde der ersten Blicke. „Niemanden erstaunt die Tatsache, dass der brutalste Angriff der vergangenen Jahre hier geschah“, schreibt die italienische Zeitung „Il Corriere della Serra“. Ist das so? Andere Blätter erinnern sich, dass es in Halle das Haus der rechtsextremen Identitären Bewegung gibt. Dessen Wahrnehmung von außen war stets größer als dessen Wirkung nach innen. In Halle bekamen die Identitären nie einen Fuß auf den Boden. Auch das gehört zu dieser Stadt. Die ist zivilgesellschaftlich vital.

Aber die zerstörerische Wirkung der mörderischen Gewalttat ist nicht zu unterschätzen. Sie verwirrt. Sie betäubt. Sie spaltet. Das nicht mit sich machen zu lassen, darum geht es. Sich nicht in der eigenen Stadt in eine Amoklage zwängen zu lassen. Sondern mittendrin zu bleiben.  (mz)