MZ-Rentenserie Teil 3 MZ-Rentenserie Teil 3: Es fehlt der Ingenieur
Halle (Saale)/MZ. - "Ich bin ein richtiger Wutbürger geworden", sagt Martin Hoffmann (Name geändert). Er ist wütend, weil er sich um einen Teil seiner Altersversorgung betrogen fühlt. Genauer gesagt, um die Zusatzversorgung, die in der DDR Teilen der technischen Intelligenz gewährt wurde. Dabei ist der heute 79-Jährige leer ausgegangen. Warum? Das ist eine lange Geschichte, die zeigt, wie sehr gesellschaftliche Verhältnisse persönliche Lebenswege beeinflussen. Aber der Reihe nach.
Hoffmann entschließt sich nach seiner Schulzeit, an der Martin-Luther-Universität in Halle Chemie zu studieren. Chemiker sind gefragt. Die chemische Industrie gehört in der noch jungen DDR zu den Schwerpunktbereichen. 1957 erhält er sein Diplom und eine Stelle in Leuna. Im Waschmittelbetrieb. Dort werden zu dieser Zeit die synthetischen Saubermacher produziert. Gleichzeitig arbeitet der junge Mann an seiner Doktorarbeit, die er bereits 1959 abschließt.
Zwei Jahre später, 1961, wird der Produktionsdirektor des Werkes als Professor an die Technische Hochschule Merseburg berufen. Er nimmt Hoffmann mit - als seinen Oberassistenten. Zukünftig ist er für die Ausbildung der Erstsemester zuständig. Und hier beginnt auch der Ärger mit seiner Rente, der ihn bis heute nicht loslässt. An der Hochschule erhält Hoffmann nämlich eine so genannte Versorgungszusage, sprich: eine Urkunde, die ihn in den Kreis derer einschließt, die im Alter neben der gesetzlichen eine so genannte Intelligenz-Rente erhalten.
Doch die Freude darüber währt nicht lange. Als Martin Hoffmann 1965 nach Leuna zurückgeht, muss er diese Urkunde wieder abgeben. "Leuna hat sie nicht übernommen", erzählt er. "Es war die Zeit nach dem Mauerbau. Damals wurde das sehr restriktiv gehandhabt." Ein paar Jahre später sei das schon wieder anders gewesen. Doch Hoffmann, inzwischen zweifacher Familienvater, gelingt es nicht, eine neue Versorgungszusage zu erhalten.
Die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz wird in der DDR bereits 1950 eingeführt - als erstes der später 27 Zusatzversorgungssysteme. Und zwar auf Betreiben der mitteldeutschen Chemiker, besonders der Wolfener. In den Unternehmen der Region hatte es vor dem Krieg großzügige Pensionsregelungen gegeben. Bei BASF, Hoechst oder Buna Hüls, die im Westen produzierten, bestehen diese weiter. Und so wandern viele Spezialisten aus dem Osten ab.
Der Unmut der Dagebliebenen ist groß und die Verantwortlichen müssen reagieren. Bereits 1947 stehen in der Filmfabrik Wolfen bei einer Aussprache zwischen Akademikern und Generaldirektion "Unklarheiten bezüglich Pensionskasse" auf der Tagesordnung. Und im Beschluss über den Zweijahrplan im Sommer 1948 heißt es: "Trotz der schweren Bedingungen unserer Zeit müssen wir eine bessere Versorgung der Spezialisten, insbesondere ihre Versicherung und Versorgung im Alter ermöglichen." Auf dem III. Parteitag der SED beauftragt Walter Ulbricht dann die Regierung, entsprechende Regelungen herbeizuführen. Das geschieht dann auch - aber nur halbherzig.
Am 17. August 1950 wird die "Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben" erlassen. Doch die erste Durchführungsbestimmung vom 26. September 1950, die übrigens nie veröffentlicht wird, macht deutlich: Es handelt sich um eine reine Kann-Bestimmung, nach der "Ingenieure, Chemiker und Techniker" nur dann einbezogen werden, wenn sie "konstruktiv und schöpferisch in einem Produktionsbetrieb verantwortlich tätig sind und hervorragenden Einfluss auf die Herstellungsvorgänge nehmen".
Das ist selbst der Partei zu wenig. Nach scharfer Kritik muss eine zweite Durchführungsbestimmung erarbeitet werden, die dann die obligatorische Eingliederung der "Ingenieure, Konstrukteure, Architekten und Techniker aller Spezialgebiete" fordert. Das klappt im wesentlichen dann auch. Aber nur bis 1961. Als die Mauer steht, fühlen sich die für die Vergabe von Versorgungszusagen Verantwortlichen auf der sicheren Seite. Niemand kann mehr raus aus der DDR. Also muss niemand mehr mit besonderen Leistungen gehalten werden. Versorgungszusagen gibt es vorrangig für besondere Kader. Martin Hoffmann gehört offensichtlich nicht dazu. "Mir fehlte etwas", sagt er und zeigt an sein Revers, genau an die Stelle, wo die Parteiabzeichen befestigt wurden.
Vorweisen kann der promovierte Diplom-Chemiker, der in Leuna als innerbetrieblicher Entwicklungs-Ingenieur geführt wird, dagegen 43 Patente. Das letzte erhielt er für die Entwicklung eines Nagellackentferners mit rückfettender Wirkung. 30 wissenschaftliche Beiträge hat er - nicht nur in DDR-Zeitschriften - veröffentlicht. Maßgeblich beteiligt ist er an der Entwicklung von Konsumgütern. Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 wurde das zur Schwerpunktaufgabe erklärt. Und so entstehen Leupirex, ein Fußbodenreiniger mit desinfizierender Wirkung, Leunamot, ein Motorenreiniger, die Rezeptur von Fit wird verbessert und vieles mehr. Doch für seine Rentenansprüche spielte das keine Rolle.
1991 scheidet Hoffmann in Leuna aus. Er erhält zunächst Altersübergangsgeld. Seit 1995 ist er Altersrentner, findet sich mit seiner Situation und der Altersrente ab. Mit der Zusatzversorgung wären es knapp 170 Euro mehr gewesen. Aber gut. 1998 keimt jedoch Hoffnung auf, dass er die Zusatzversorgung doch noch bekommt. Die Hoffnung gründet sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts. Es kommt aufgrund der willkürlichen DDR-Praxis zu folgendem Urteil: Die Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem hängt nicht notwendigerweise davon ab, ob und wann in der DDR eine Versorgungszusage erteilt worden ist. Zugehörigkeit liegt auch vor, wenn eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt worden ist, deretwegen eine zusätzliche Altersversorgung vorgesehen war. Die Rede ist von fiktiver Einbeziehung.
Am 4. Januar 1999 stellt der Rentner bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) einen entsprechenden Antrag. Doch nun bringt ihm besagte zweite Durchführungsbestimmung von 1951 Nachteile. Die BfA argumentiert, hier würden Chemiker nicht mehr explizit als Bezugsberechtigte genannt. Sie verlangt im Titel den Ingenieur. Hoffmann ist aber Diplom-Chemiker. Und so wird sein Antrag wie der vieler anderer abgelehnt. Zu Unrecht, meint er. Seiner Auffassung nach gehört er laut Systematik der Berufe sehr wohl zu den Ingenieuren und Technikern des Spezialgebietes Chemie. Steht doch in seinem Arbeitsvertrag, dass er als "innerbetrieblicher Entwicklungsingenieur" beschäftigt ist. Doch in der Antwort der BfA, die ihm im Oktober zugeht, wird auf sein Diplom Bezug genommen. "Die tatsächliche Ausübung einer ingenieurtechnischen Tätigkeit ist insoweit unbeachtlich", heißt es in dem Schreiben.
Damit gibt sich der Rentner nicht zufrieden. Wie viele andere Betroffene glaubt er, dass die DDR-Gesetze nicht richtig interpretiert werden. Er zieht vor das Sozialgericht und das Landessozialgericht in Halle. Auch hier erreicht er nichts. Er verliert seinen Prozess. Eine Revision wird nicht zugelassen. Das Landessozialgericht hat eine andere Rechtsauffassung als das Bundessozialgericht. Es lehnt die fiktive Einbeziehung in das Versorgungssystem ab, verlangt eine schriftliche Versorgungszusage und steht auf dem Standpunkt, die Betroffenen hätten jederzeit der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung beitreten können, um ihre spätere Rente aufzubessern. Martin Hoffmann hat das übrigens getan. Er meint aber, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat.
Und er stellt einen Wiederaufnahmeantrag. Dieser wird im März dieses Jahres abgelehnt. Nun entschließt er sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Hoffmann verklagt den 1. Senat des Landessozialgerichts unter anderem wegen "unterlassener vollständiger Sachaufklärung" in seinen Prozessen. Bisher habe kein Gericht Rechtsquellen vorlegen können, die den Ausschluss von Chemikern rechtfertigen können. "Was mich so wütend macht ist, dass sich keiner mit mir auf eine Sachdiskussion einlässt", sagt er. Ob es dazu noch kommt? Für seine Klage hat er eine Eingangsbestätigung erhalten. Was jetzt weiter passiert, ist offen. Martin Hoffmann aber ist nicht nur Wutbürger. "Ich bin auch Optimist", sagt er.