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Munitionsexplosion bei Wittenberg Munitionsexplosion bei Wittenberg: Vor 80 Jahren kommt es zum verheerenden Unglück

Von Steffen Könau 12.06.2015, 18:09
Nach der gewaltigen Explosion steigt am 13. Juni 1935 eine gewaltige Wolke über dem Werksgelände bei Wittenberg auf.
Nach der gewaltigen Explosion steigt am 13. Juni 1935 eine gewaltige Wolke über dem Werksgelände bei Wittenberg auf. Klitzsch, Bundesarchiv Lizenz

Reinsdorf - Zum Mittagessen an seinem letzten Tag hatte sich Emil Kramer saure Eier gewünscht. „Mutter hat ihm die gemacht, aber es hat ihm nicht geschmeckt“, erinnert sich Christine Hauck, die heute 85-jährige Tochter des Elektrikers aus Wittenberg, der an jenem 13. Juni 1935 nach dem Mittagessen auf sein Fahrrad steigt. Emil Kramer muss zur Schicht bei der Westfälisch-Anhaltischen-Sprengstoff AG. Kramer fährt los, seine Frau und seine Tochter schauen ihm aus dem Wohnzimmerfenster in der Kurfürstenstraße nach. „Er wäre fast mit einem Kollegen zusammengestoßen“, erzählt Christine Hauck, „und meine Mutter sagte noch, hoffentlich passiert nichts.“

Schneller Ausbau

Es ist immer Angst bei Familie Kramer, seit der Vater gezwungen ist, bei der kurz Wasag genannten größten Munitionsfabrik des Deutschen Reiches zu arbeiten. Deren Betriebsgelände befindet sich in Reinsdorf am Stadtrand von Wittenberg, es ist riesig groß und wird immer größer, seit Adolf Hitler an die Macht gekommen ist. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Siegermächte bestimmt, dass die Wasag Deutschlands einzige Produktionsstätte für Sprengstoffe sein dürfe. Nach seiner Ernennung zum Reichskanzler beschloss Hitler einen schnellen Ausbau der Kapazitäten. Arbeiteten im Jahr 1933 noch rund 2.000 Arbeiter und Angestellte bei der Wasag, waren es 1935 schon fast 8.000.

Sie alle halten kurz vor 15 Uhr erschrocken inne. „Ein ungeheuerer Knall rollte über die Stadt“, beschreibt Christine Hauck, „und dann stieg über dem Werksgelände eine schreckliche schwarze Wolke hoch“. Auch Mutter und Tochter Kramer halten den Atem an. „Wir stürzten sofort hoch ins Dachgeschoss, um durch das schräge Fenster dort mehr zu sehen.“ Schon auf der Treppe habe ihre Mutter immer „Emil, Emil“ gerufen, sagt Christine Hauck. „Als ob sie etwas geahnt hätte.“

Kettenreaktion aus Explosionen

In der Anlage zur Herstellung des Sprengstoffes Trinitrotoluol, besser bekannt unter dem Kürzel TNT, hatte es erst einen Brand und dann eine Kettenreaktion aus Explosionen gegeben. Binnen Minuten explodieren 27 Tonnen Sprengstoff. Etwa 100 Menschen sind tot, ebenso viele schwer verletzt. Zwei der drei „Ölberge“, wie die Anlagen zur Herstellung des Sprengstoffs Nitroglycerin genannt werden, sind zerstört, zerstört ist auch die Pikrinsäureanlage. „Stark in Mitleidenschaft gezogen wurden außerdem auch die Hexa- und Tetraanlagen sowie die Schmelz- und Sprengkapselproduktion“, heißt es später in einem Schadensbericht. Anlagenteile, Kesselwagen und Lagerkessel sind Hunderte von Metern weit weggeschleudert worden. Fünf Zentimeter hoch steht flüssiger Sprengstoff in einem Filterhaus. Es brennt hier und dort, und eine Nitrieranlage droht jeden Moment in die Luft zu fliegen.

Blut lief aus den Türritzen

Eine Katastrophe für die Firma, für Hitlers Aufrüstungspläne, vor allem aber für die betroffenen Familien. „Wir haben die Autos gesehen, die die Verletzten ins Krankenhaus brachten“, erinnert sich Christine Hauck. Weil es so viele Opfer gab, sind alle erreichbaren privaten Pkw konfisziert worden. „Als sie vorbeifuhren, sahen wir das Blut aus den Türritzen laufen.“

Dass Emil Kramer unter den Todesopfern ist, steht noch nicht fest. „Mutter hat überall immer nur gefragt, ist er dabei, ist er dabei.“ Tage wie ein nicht enden wollender Albtraum. „Schließlich kam die Nachricht, dass man meinen Vater anhand eines Stücks seines Handgelenkes identifiziert hat, an dem noch ein Lederbändchen hing.“ Es ist alles, was von dem 31-jährigen Emil Kramer gefunden wird. „Der Sarg war leer“, sagt seine Tochter.

Auf der nächsten Seite lesen Sie unter anderem, wie es zum verheerenden Unglück nahe Wittenberg kommen konnte.

Es ist ein Unfall gewesen, das haben Kripo-Ermittler unter Leitung des aus Berlin abgeordneten Katastrophen-Kommissars Oskar Paul Dost wenig später herausgefunden. Nach einem Tag steht fest, dass „ein bestimmter Säurekessel allein die Ursache der Explosionen gewesen sein muss“, wie Dost später beschreibt. Am zweiten Tage sei dann auch bekannt gewesen, wer an diesem Kessel gearbeitet habe. „Der Mann liegt auf den Tod verletzt im Krankenhaus und schweigt.“

Doch dann, „in einer Gemütsaufwallung von Schuld, Sorge, Angst und Reue fängt er endlich an, sich das vom Gewissen zu reden, was ihn quält und sichtlich nicht zur Ruhe und zur Heilung kommen lässt“, berichtet Ermittler Oskar Paul Dost.

Handschuh ist Schuld am Tod der Arbeiter

Ein Handschuh, ein simpler Arbeitshandschuh, ist schuld am Tod von Emil Kramer und all seinen Kollegen. Er ist dem Mann in einen Sammelkasten in der Toluolanlage gefallen, in der Abfallsäuren von Fremdkörpern befreit werden. Mehr braucht es nicht. Ein Wollflicken am Handschuh, von der Frau des Arbeiters notdürftig angebracht, weil die Unternehmensleitung sich stets weigert, Handschuhe mit kleinen Schäden durch neue zu ersetzen, führt sofort zu einer Selbstentzündung.

Ein Ergebnis, das 48 Stunden nach dem Unglück unwiderlegbar ist. Aber nicht in die Vorstellungen von Adolf Hitler und seinen Vize Hermann Göring passt.

Für die Führung des Nazi-Staates ist klar, dass hinter der Katastrophe etwas anderes stecken muss als ein einfacher Arbeitsunfall. Die Staatspolizei, die damals parallel zur Kriminalpolizei ermittelt, habe zuallererst einmal „einen Bunker eingerichtet, um Attentäter einzusperren, denn nach ihrer Ansicht handelt es sich um einen ganz klaren Fall von Sabotage am Aufbau des Dritten Reiches“, beobachtet Oskar Paul Dost. Nur die Anschlagstheorie erkläre, glaubt die Stapo, dass die Explosionen beinahe gleichzeitig erfolgt seien. Die Täter vermutet die Stapo unter kommunistischen Arbeitern. Auch Ausländer, Juden und frühere SPD-Funktionäre seien als mutmaßliche Saboteure festgenommen worden, erzählt Christine Hauck. Wahllos, denn viele von ihnen seien nie im Werk gewesen. „Hitler hat das Unglück propagandistisch benutzt.“

Am 18. Juni lässt die Naziführung ein Staatsbegräbnis in Reinsdorf ausrichten. Neben Hitler und Göring kommt auch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nach Anhalt und legt einen Kranz für die Opfer nieder, deren Zahl offiziell mit 58 angegeben wird. Sie seien „auf dem Feld der Ehre für das neue Reich gefallen“, sagt Goebbels, ihre Familien könnten „als herrliche Gewissheit mitnehmen, das ihre Angehörigen starben, auf dass Deutschland lebe“. Auch Göring lobt den vermeintlichen Opfergang in einer Rede: Es sei „das Große, dass heute nicht mehr umsonst der deutsche Mensch in den Tod geht, sondern dass jeder einzelne damit ein großes Opfer am Altar des Vaterlandes niederlegt“, sagt er. „Hitler selbst hat meiner Mutter die Hand gedrückt“, erzählt Christine Hauck.

„Der Führer tröstet die Hinterbliebenen“ steht am nächsten Tag in allen Zeitungen. Der hundertfache Tod wird zur Gelegenheit, die „Volksgemeinschaft“ noch mehr auf das Reich einzuschwören.

Keine Rücksicht auf Sicherheit

Die jüdische Reporterin Maria Leitner, die unter falschem Namen Reportagen über die geheimen Kriegsvorbereitungen Deutschlands für die in Moskau erscheinende Exilzeitschrift „Das Wort“ schreibt, notiert hingegen, was Anwohner sagen. Der Ausbau der Fabrik sei so schnell gegangen, dass auf Sicherheit keine Rücksicht genommen worden sei. In der Eile seien wohl Fehler passiert, Fehler, die zur Explosion führten. „Vielleicht waren es auch Versuche, die schiefgingen“, hat Christine Hauck später gehört.

Auch die illegale kommunistische Zeitung „Rote Fahne“ sieht die Verantwortung für die Toten bei den „Arbeitermördern der Hitlerregierung“. Das „Hetztempo der Arbeit im Werk“ sei bekannt, ebenso die „mörderischen Arbeitsbedingungen“, die Hitlers Arbeitsminister Robert Ley verordnet habe. Arbeiter, die dagegen protestiert hatten, seien zu bis zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.

Glücksfall für die Wasag

Für die Wasag stellte sich die Vernichtung der Sprengstoffproduktion als Glücksfall heraus. Die Reichsregierung bewilligt großzügige Zuschüsse für Reparaturarbeiten und den kompletten Neubau eines Ersatzwerkes. Auch die Hinterbliebenen werden bedacht - die „Stiftung für Opfer der Arbeit“ legt für Christine Hauck ein Sparbuch an, auf das monatlich fünf Mark eingezahlt werden, um den Verlust des Vaters und Ernährers zu mildern.

Mit 18 hätte Christine Hauck sich über 800 Mark freuen dürfen, zynisch genug. „Aber da gab es den Staat schon nicht mehr.“ Geblieben ist ihr so nur der Tannenzapfen, der damals, vor 80 Jahren, auf den Trauerkranz ihres Vaters befestigt war. „Als ich aus der DDR geflüchtet bin, habe ich ihn mitgenommen“, sagt sie, „und seitdem gehörte er jedes Jahr zu unserem Adventskranz.“

Zum Staatsbegräbnis für die Opfer kommt fünf Tage später auch Adolf Hitler. Die Nazis nutzen das Unglück später für Propagandazwecke aus.
Zum Staatsbegräbnis für die Opfer kommt fünf Tage später auch Adolf Hitler. Die Nazis nutzen das Unglück später für Propagandazwecke aus.
Klitzsch, Bundesarchiv Lizenz