Linda W. Minderjährige Islamistin aus Pulsnitz: Claudia Dantschke betreut die Familie von Linda W.

Halle (Saale) - Es kommt nicht so oft vor, dass Claudia Dantschke öffentlich in Erscheinung tritt. Dafür fehlen ihr die Zeit und wohl auch das Sendungsbewusstsein. Will man von der gebürtigen Leipzigerin etwas wissen will, gelingt dies noch am ehesten via Mail. Doch auch auf solche Anfragen antwortet sie gelegentlich mit „ganz kurz“ oder „bin in Terminen, kann nicht“.
Im Dezember machte die für ihr Engagement preisgekrönte Frau in Sachen Zurückhaltung eine Ausnahme. Da war es der ARD gelungen, in Bagdad ein Gespräch mit Linda W. zu führen - einer minderjährigen Islamistin aus dem sächsischen Pulsnitz, die im Sommer 2016 nach Syrien ausreiste, seit dem Sommer 2017 in Bagdad im Gefängnis sitzt und nun zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Dantschke trat als Expertin in Erscheinung - und das nicht zufällig. Sie betreut die Familie, die in gewisser Weise eine typische Familie ist.
Lindas Eltern haben sich schon vor längerem getrennt. Zu ihrer Mutter hat die Tochter kein besonders gutes Verhältnis. Manches spricht dafür, dass diese Konstellation das Abrutschen in den Islamismus begünstigt hat. Wie sonst käme ein Mädchen ohne einen Migrationshintergrund von Pulsnitz nach Bagdad?
Beruf und Berufung für Claudia Dantschke
Familien wie diese zu betreuen, ist Dantschkes Beruf geworden - und wohl auch ein Stück Berufung. Sie leitet „Hayat Deutschland“, eine Beratungsstelle mit einer Handvoll Mitarbeitern, die sich um die Deradikalisierung junger Islamisten in Berlin und im Osten kümmert und eine Außenstelle in Bonn unterhält, einem Hotspot der Szene.
Ihre Erfahrungen zeigen, dass Radikalisierung mit Islam wenig und mit sozialer Verwahrlosung viel zu tun hat. „Unsere Jugendlichen sind nicht auf der Suche nach Religion.“ Die sei nur Mittel zum Zweck. Auch sei der Migrationshintergrund eher nicht relevant, dafür umso mehr die Erziehung. Betroffen sind vielfach Kinder aus bi-nationalen Beziehungen auf der Suche nach einer Identität.
Oder es ist das mittlere von mehreren Kindern, dem Aufmerksamkeit fehlt. „Der Salafismus wertet die Jugendlichen auf“, sagt Dantschke. „Plötzlich sind sie wer.“ Wer zu sein – darum geht es. Ob sich Jugendliche zu diesem Zweck für Islamismus oder Rechtsextremismus entscheiden, ist dabei fast schon egal.
Es stand nicht an Dantschkes Wiege, dass sie einmal tun würde, was sie heute tut. Sie berichtet vom Arabistik-Studium, das sie noch zu DDR-Zeiten in Leipzig absolvierte und das sie mit einem Diplom als Sprachmittlerin für Arabisch und Französisch abschloss. Dantschke hat später bei der Nachrichtenagentur ADN gearbeitet und war „mit dem Tag der Deutschen Einheit arbeitslos“. In den 1990er-Jahren ging es holprig weiter - wie bei so vielen Ostdeutschen.
Dschihadisten sollen von einem tödlichen Weg abgebracht werden
Dantschke war in Berlin als freie Journalistin für einen lokalen türkischen Fernsehsender unterwegs, bekam einen Einblick in die islamische Community, auch in die extreme, allen voran in die umstrittene „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“, die sie später von Veranstaltungen ausschloss.
„Wir waren ziemlich nah dran am radikalen Bereich.“ Damit war eine Spur ins Heute gelegt. 2002 wechselte Dantschke zum Zentrum Demokratische Kultur, unter dessen Dach sich der Verein „Exit Deutschland“ befindet, der sich um rechtsextremistische Aussteiger kümmert. In den Nullerjahren rückte der Islamismus in den Fokus. Ein Grund waren die Ausreisen nach Afghanistan und Pakistan, die nicht so zahlreich waren wie jene nach Syrien und in den Irak und dennoch viel Aufsehen erregten.
2010 stellte die damalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Geld für Prävention zur Verfügung. 2011 entstand unter Dantschkes Leitung „Hayat“ - als Teil eines bundesweiten Netzwerks von Beratungsstellen, das sein Zentrum in der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat. Einziges Anliegen ist, angehende Dschihadisten von einem Weg abzubringen, der für sie selbst und für andere tödlich enden kann.
Eltern von minderjährigen Islamisten sollen wieder ein Verhältnis zu ihren Kindern entwickeln
Nun darf man sich Deradikalisierung nicht wie eine Art Gehirnwäsche vorstellen. Ohnehin nimmt „Hayat“ nur in zehn Prozent der Beratungen direkten Kontakt mit den Betroffenen auf - wenn diese es wünschen. In den meisten der insgesamt 430 und aktuell 190 Fälle waren es die Eltern, die sich an die Beratungsstelle wandten; überwiegend sind es Mütter. Dabei tauchen zwei Arten von Familien immer wieder auf: solche, die durch eine Scheidung oder ähnliche Ereignisse auseinander gefallen, oder solche, die besonders autoritär strukturiert sind.
„Es gibt Jugendliche, die eine Scheidung nicht verkraften“, sagt Dantschke. „Es kann auch mal ein toter Großvater sein oder eine Freundin, die sich trennt.“ Für Dantschke und ihre Mitstreiter geht es darum, an der Heilung der Folgen mitzuwirken - und nicht darum, den Klienten gleichsam den Koran auszutreiben.
Das beginnt mit einem Gespräch in der Beratungsstelle oder einem anonymen Café. Zu Beginn geht es um Brüche im Leben der Jugendlichen, um das Verhältnis zu den Eltern, um die Persönlichkeit des Betroffenen. Anschließend, so die Fachfrau, „coachen wir die Eltern“. Sie sollen wieder ein Verhältnis zu ihren Kindern entwickeln – und zwar durch Zuhören, ohne die eigene Meinung zu verleugnen. Ziel ist, die Radikalisierung zu stoppen. Das gelingt laut Dantschke in vielleicht 60 Prozent der Fälle. Wie religiös das Kind am Ende des Prozesses ist, ist den Leuten von „Hayat“ herzlich egal.
Dantschke: „Wir sind mit wahnsinnig viel Elend konfrontiert“
Deren größtes Problem sind auch nicht Jungs, die plötzlich regelmäßig in eine Moschee gehen, oder Mädchen, die aus heiterem Himmel ein Kopftuch tragen. Das größte Problem sind jene, deren Radikalisierung bereits abgeschlossen ist und die dies durch die Ausreise ins einstige Kalifat des Islamischen Staates dokumentiert haben und jetzt zuweilen tot sind oder im Gefängnis sitzen.
Da bleibt - wie im Fall Linda W. - einstweilen bloß, die Eltern zu unterstützen und auf eine Rückreise des Kindes zu hoffen. In diesen Fällen sind die Sicherheitsbehörden ohnehin involviert.
„Wir sind mit wahnsinnig viel Elend konfrontiert“, sagt Dantschke. Sie erzählt die Geschichte einer Mutter, vor deren Wohnung mal zwei Islamisten standen mit der Botschaft: „Ihr Sohn ist im Paradies.“ Sprich: Er ist tot. „Da muss man sich ein dickes Fell zulegen.“ Gleichwohl wendet sich Dantschke gegen jede Form der Übertreibung, gar der öffentlichen Hysterie im Umgang mit dem Islam und dem Islamismus. Diese empfindet sie vielmehr als Problem.
Auch plädiert sie dafür, die jungen Islamisten mit deutschen Wurzeln im Zweifel heimzuholen, wenn es möglich ist – nicht zuletzt, um so für die Überlegenheit von Demokratie und Rechtsstaat zu werben. „Das sind unsere Staatsbürger“, sagt Dantschke und fügt den vielleicht größten Satz des gesamten Gesprächs hinzu: „Die Eltern haben ein Recht, ihre Kinder zu lieben.“ Deren Taten und Einstellungen gelte es zu verurteilen, nicht die Kinder selbst.
Ehemaliger US-Außenminister John Kerry im Büro
Zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung treffen wir uns abermals, diesmal zur Teambesprechung im „Hayat“-Büro in Friedrichshain. Bernd Wagner ist da, Chef von „Exit Deutschland“, und Ahmad Mansour, der immer wieder von sich reden macht, weil er als Palästinenser und geborener Muslim die anderen Muslime in Deutschland zur Selbstkritik ermahnt.
Auf dem Konferenztisch stehen Cola-Flaschen. An der Wand hängt ein großes Foto, das Dantschke mit dem ehemaligen US-Außenminister John Kerry zeigt. Denn die Arbeit von „Hayat“ strahlt längst auch international aus – in Länder, die ebenfalls ein Islamismus-Problem haben, aber kein Präventionsnetzwerk wie die Bundesrepublik. Hier im Büro wird über Innerbetriebliches ebenso gesprochen wie über die konkreten Fälle – weshalb wir es vor Beginn der Besprechung verlassen müssen. Denn es herrscht strikte Vertraulichkeit. Damit bleibt auch unklar, ob der Fall Linda W. an diesem Tag aufgerufen wird.
Zwar gilt deren Ausreise trotz der Haftstrafe früher oder später als wahrscheinlich. Doch ob und wo das Mädchen in Deutschland wieder ein normales Leben wird führen können, ist ungewiss. Dantschke war ja mit dem Schicksal der Familie erst konfrontiert, als Linda W. ihr Zuhause bereits klammheimlich gen Syrien verlassen hatte. Hätte sie früher davon erfahren, wäre das Mädchen womöglich in Pulsnitz geblieben – und hätte seine Zukunft nicht mit Schuld und einer zentnerschweren Hypothek belastet.
Mitschüler von Linda W. betroffen
Freunde der früheren IS-Anhängerin Linda W. aus dem sächsischen Pulsnitz macht das Schicksal ihrer einstigen Mitschülerin betroffen. „Sie leiden darunter, weil sie nicht verhindern konnten, dass Linda weggegangen ist. Weil sie nicht gemerkt haben, was sich da tatsächlich anbahnt“, sagte Bürgermeisterin Barbara Lüke (parteilos) am Montag. Es sei wichtig, diesen Menschen einen Rückhalt zu geben.
Am Sonntag war bekanntgeworden, dass die heute 17 Jahre alte Linda wegen Mitgliedschaft in der Terrormiliz IS und illegalen Grenzübertritts im Irak für sechs Jahre ins Gefängnis muss. Lüke geht davon aus, dass die bohrenden Fragen im Freundeskreis von Linda wieder hochkommen: „Sie war eine ganz normale Schülerin mit einem ganz normalen Umfeld. Linda war in ihrer Klasse auch nicht isoliert.“ (mz)