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Millionen-Projekt in Wittenberg Millionen-Projekt in Wittenberg: Holländer züchten Tomaten mit Hilfe von Hummeln

Von Stefanie Hommers 13.01.2014, 09:16
Auf einer Fläche von 15 Hektar reifen in Wittenberg die ersten Tomaten. Die Gewächshausanlage soll später noch erweitert werden.
Auf einer Fläche von 15 Hektar reifen in Wittenberg die ersten Tomaten. Die Gewächshausanlage soll später noch erweitert werden. Thomas klitzsch Lizenz

wittenberg/MZ - Die Luft ist mild und klar, das Auge blickt auf beruhigendes, von Sonnenlicht beschienenes Grün, und es ist ziemlich ruhig. Das einzige Geräusch, das durch die Stille dringt, ist ein leises Summen und Brummen. Es rührt von durch den Raum schwebenden Hummeln - und einigen Ventilatoren. Die einen sorgen für Bestäubung, die anderen für eine perfekte Luftzirkulation. Auf einer Fläche von 15 Hektar - das entspricht etwa 15 Fußballfeldern - reifen derzeit auf einer alten Industriebrache in unmittelbarer Nachbarschaft zum Agro-Chemiepark der Lutherstadt Wittenberg Tomaten. Unter Glas, mit Hilfe aus der Natur, ausgeklügelter Technik und in beeindruckenden Dimensionen.

250.000 Pflanzen wurden Mitte Dezember in zwei riesigen Gewächshäusern gepflanzt. Derzeit blitzen die ersten leuchtend gelben Blütenköpfe zwischen dem in langen Reihen sprießenden Grün hervor und harren der Dienste von etwa 2 500 eigens dafür ausgesetzter Hummeln. „In der freien Natur sorgt der Wind für die Bestäubung“, sagt Helmut Rehhahn, hier habe man sich tierische Helfer besorgt.

3.000 Tonnen Tomaten und Umsätze von 9 Millionen erwartet

Hummeln gelten als ausgezeichnete Bestäuber. Kein anderes Insekt bestäubt Obst und Gemüse so effektiv, weil der Blütenstaub bei dem Tier - anders als bei den Bienen - am gesamten pelzigen Haarkleid der Hummel haftet. Mittlerweile werden sie daher rund um das Jahr extra für die Bestäubung in Gewächshäusern gezüchtet. Versand werden die Völker in einem Hummelkasten, der zwischen den Pflanzen aufgestellt wird. Von hier schwärmen sie aus, und kehren bei Einbruch der Dunkelheit in den Kasten zurück.

Rehhahn, Sachsen-Anhalts früherer Landwirtschaftsminister, kümmert sich als Projektmanager um das Vorhaben eines niederländischen Investorentrios und rechnet damit, dass Mitte März die ersten roten Früchte von der Party- über die Cocktail- bis zur Mittelrispen-Tomate geerntet und vermarktet werden können. Rund 3.000 Tonnen erwarte man, so die Schätzung von Wichard Schrieks, Umsatzvolumen neun Millionen Euro. Doch das ist erst der Anfang.

Schrieks hat in Wittenberg mit Pieter van Gog und Marion Leenders-van Gog begonnen, eine der größten Gewächshausanlagen der Bundesrepublik aus dem Boden zu stampfen. Wenn alle Bauten fertig sind - drei weitere Gewächshäuser befinden sich noch in Planung - werden die holländischen Unternehmer vor Ort 40 Hektar reine Pflanzfläche unter Glas bewirtschaften; hinzu kommt ein Logistikzentrum, mit Kühlraum, Verpackungslinie und Verladestation, das für den Weitertransport unter dem Label „Wittenberg Gemüse GmbH“ Richtung Einzelhandel und Verbraucher zuständig ist.

„Es geht uns insbesondere um eine lokale Vermarktung.“

Schiere Größe sei indes nicht das Ziel, so Schrieks. „Es geht uns insbesondere um eine lokale Vermarktung.“ Daher werde auch die Ortsmarke Wittenberg bewusst verwendet. Doch auch bei Definitionen denken die Großinvestoren nicht in kleinen Dimensionen. Den Begriff „lokal “ interpretieren sie großzügig als Raum, der bis Leipzig, Dresden und Berlin reicht. Sechs Millionen Endverbraucher wollen sie so letztlich erreichen.

Die Investoren können dabei auf weitreichende Erfahrungen in Sachen Gewächshauskultur verweisen. Schrierks ist zwar von Haus aus Steuerberater, einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist aber schon seit langem die Beratung von Agrarbetrieben in den Niederlanden und in der Bundesrepublik. Sein Partner Pieter van Gog betreibt im Nachbarland gleich vier größere Gewächshäuser.

Gezielte Versorgung mit Kohlendioxid

Dass sich die Niederländer zur Etablierung auf dem deutschen Markt für den Standort Wittenberg entschieden haben, hängt nicht zuletzt mit der unmittelbaren Nachbarschaft zusammen. Der Chemiekonzern SKW Stickstoffwerke Piesteritz ist Deutschlands führender Produzent von Harnstoff. Bei dessen Herstellung entsteht als Abfallprodukt CO2 - und eben dieses Gas brauchen Tomaten für die Photosynthese und damit für ihr Wachstum. Da es sich bei dem von SKW anfallenden Gas zudem um CO2 in lebensmittelreiner Qualität handele, sei eine Kooperation ideal, so Wichard Schrieks. Der Chemiekonzern könne ein sonst für ihn nicht verwertbares Produkt verkaufen, „und wir sparen bares Geld“.

Über eine eigens gelegte circa 500 Meter lange Pipeline gelangt das Gas zu den Gewächshäusern. Unterhalb der langen regalähnlichen Bahnen, auf denen die Tomatenpflanzen in praktischer Arbeitshöhe stehen, befinden sich perforierte Plastikschläuche. Mit deren Hilfe erfolgt die gezielte Versorgung mit CO2 . Der Nachbar liefert aber noch ein weiteres Abfallprodukt, das den Pflanzen zugutekommt: Abwärme. Das spare Energie und führe letztlich dazu, den CO2 -Ausstoß dort zu senken, wo er unerwünscht ist, im Außenklima, erläutert Investor Schrieks.

Bewässerung mit eigenem Brunnensystem

Man habe lange in mehreren Regionen nach einem Standort gesucht. „Hier sind die Bedingungen ideal.“ Denn nur unter effizientem Einsatz der vorhandenen Ressourcen sei die Produktion profitabel. Ansonsten ergebe sich die absurde Situation, „dass es kostengünstiger ist, Tomaten über hunderte Kilometer zu transportieren, als sie vor Ort zu produzieren“.

Effizienz wird im gesamten Produktionssystem großgeschrieben. Die Bewässerung inklusive Versorgung mit Nährstoffen erfolgt über ein eigenes Brunnensystem in einem geschlossenen Kreislauf. Was bei der Tröpfchenbewässerung von der Pflanze nicht aufgesogen wird, sammelt sich in einer Rinne unterhalb des aus kompostierbarer Kokosfaser bestehenden Nährbodens, fließt zurück und wird nach Aufbereitung wiederverwendet.

Zudem, sagt Schrieks, sei der Verzicht auf künstliche Beleuchtung eine bewusste Entscheidung. Das gilt für Pflanze und Mensch. „Gearbeitet wird nur während der Tageslichtzeit“, sagt Rehhahn. Für die derzeit 25 festangestellten Arbeitskräfte heißt das, die Arbeitszeiten verschieben sich im Jahresverlauf. Im Winter sind sie kürzer, im Sommer länger. Abgeglichen wird das durch Arbeitszeitkonten. Derzeit werden die neuen Angestellten von Experten aus den Niederlanden eingearbeitet. Es gilt, die jungen Pflanzen zu entblättern und auszugeizen, vor allem aber dafür zu sorgen, dass die an hochhängenden Fäden emporranken. Haben sie eine bestimmte Höhe erreicht, werden die Rankhilfen mitsamt der Pflanzen abgenommen und in die Waagrechte gebracht - zwecks müheloser Ernte.

Langfristig sollen rund 120 Mitarbeiter in dem Komplex beschäftigt werden. Auch im Oktober, wenn die Erntesaison endet, gibt es dennoch jede Menge Arbeit „Dann kommt hier alles raus“, sagt Helmuth Rehhahn. Der gesamte Gewächshausbereich werde dann gereinigt und desinfiziert, bevor im Dezember mit neuen Pflanzen alles wieder von vorn beginne.

Investor Wichard Schrieks (links) und Projektmanager Helmut Rehhahn.
Investor Wichard Schrieks (links) und Projektmanager Helmut Rehhahn.
Thomas Klitzsch Lizenz
Die Investoren des Gewächshauses verzichten auf künstliche Beleuchtung und setzen auf Tageslicht. Daran orientieren sich auch die Arbeitszeiten.
Die Investoren des Gewächshauses verzichten auf künstliche Beleuchtung und setzen auf Tageslicht. Daran orientieren sich auch die Arbeitszeiten.
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Hier sollen die Tomaten später verpackt und verschickt werden. Die Investoren wollen sechs Millionen Verbraucher in Ostdeutschland erreichen.
Hier sollen die Tomaten später verpackt und verschickt werden. Die Investoren wollen sechs Millionen Verbraucher in Ostdeutschland erreichen.
Thomas Klitzsch Lizenz