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Adam oder Eva? Max-Planck-Institut in Leipzig: Philipp Gunz rekonstruiert die Knochen der ältesten Homo sapiens

Von Steffen Höhne 07.07.2017, 17:20
Der Paläoanthropologe Philipp Gunz hält die Nachbildung eines Schädels von einem frühen Menschen in den Händen.
Der Paläoanthropologe Philipp Gunz hält die Nachbildung eines Schädels von einem frühen Menschen in den Händen. Andreas Stedtler

Leipzig - Auf der flachen Hand hält Philipp Gunz den Schädel vor sich: „So könnte er ausgesehen haben, der erste Mensch“, sagt der Paläoanthropologe. „Das Gesicht dieser Frau oder dieses Mannes würde Ihnen in der Leipziger Straßenbahn nicht groß auffallen.“ Die Gesichtsform sei von der heutiger Menschen praktisch nicht zu unterscheiden. Mit den Fingern fährt der Wissenschaftler über Zähne und Jochbein. Die Stirn wölbt sich etwas. „Bei heutigen Menschen sieht man das auch ab und zu“, sagt Gunz. Erst die längliche Form deutet darauf hin, dass es nicht der Schädel eines Verstorbenen aus dem 21. Jahrhundert sein kann.

Die Nachbildung geht auf die Rekonstruktion von fossilen Knochen zurück, die Gunz am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig vornahm. Es handelt sich dabei nicht um irgendwelche fossilen Stücke, sondern sozusagen um die von Adam oder Eva.

Homo sapiens ist älter als gedacht

Anfang Juni ging ein internationales Forscherteam unter Leitung von EVA-Direktor Jean-Jacques Hublin mit einer wissenschaftlichen Sensation an die Öffentlichkeit. Neue Fossilien und Steinwerkzeuge aus Jebel Irhoud in Marokko sollen belegen, dass die Entstehung unserer Spezies mehr als 300.000 Jahre zurückliegt. Bisher gingen die Forscher von nur 200.000 Jahren aus. Verblüffend ist nicht nur das Alter, sondern auch der Fundort. Bisher galt als wissenschaftlicher Konsens, dass die Wiege der Menschheit in Ostafrika - in Oma Kibish im heutigen Äthiopien - liegt.

Das EVA ist mit 400 Mitarbeitern das größte Institut für Anthropologie (Menschenkunde) auf der Welt. Der Neubau am Deutschen Platz in Leipzig befindet sich in direkter Nachbarschaft zur Nationalbibliothek. Das Atrium im Eingangsbereich ist voll verglast, in der Mitte des Gebäudekomplexes befindet sich ein künstlich angelegter Teich, über den Stege führen. Gunz sitzt in einen drei mal fünf Meter kleinem Zimmer im zweiten Stock. Ein Regal mit Büchern nimmt viel Platz ein. Auf einem Computer-Bildschirm kreisen Knochenteile. Mit der Maus dreht und wendet der Wissenschaftler diese räumlich, versucht, sie zusammenzufügen. Es ist wie Tetris für Anspruchsvolle.

In Leipzig werden die Knochen der ältesten Homo sapiens rekonstruiert

Der 41-jährige Philipp Gunz ist einer von wenigen renommierten Paläoanthropologen weltweit, der mit Computer-Programmen Prototypen unserer Spezies erstellt. Seiner Arbeit kommt große Bedeutung zu, denn die Belege müssen eindeutig sein, damit wissenschaftliche Lehrbücher und Schulbücher umgeschrieben werden - die Geburtsstunde der Menschheit zurückdatiert wird.

Dass vermeintliche Gewissheiten infrage gestellt werden, liegt vor allem an neuen Untersuchungsmethoden. In den verschütteten Höhlen von Jebel Irhoud wurden bereits in den 60er Jahren menschliche Fossilien und Steinwerkzeuge gefunden. Der Franzose Hublin entdeckte bei neuen Ausgrabungen 2004 weitere Skelett-Reste, wie versteinerte Unterkiefer, Zähne und Langknochen von mindestens fünf Individuen. Mithilfe der neuen sogenannten Thermolumineszenzmethode konnte das Alter der Steinwerkzeuge auf 300.000 Jahre datiert werden. Eine Messung der direkten Radioaktivität der Knochen deutet auf ein ähnliches Alter hin. Doch bei den Funden könnte es sich auch um Vorgänger des Homo sapiens handeln.

Laut Gunz wurden die Fundstücke noch in Marokko mit modernster Computertomografie eingescannt. „Als Erstes haben wir die Teile in Leipzig dann mit einem 3-D-Drucker repliziert.“ Gunz holt kleine Kunststoffteile von Schädelknochen und Zähne aus dem Schrank. „Ich brauche erst einmal einen Eindruck der plastischen Form.“ Durch das Zusammenfügen mit den Händen lasse sich schnell und einfach erkennen, welche gut zusammenpassen. „Manchmal macht es sogar Klick, so gut passt alles ineinander.“ Anschließend beginnt die Arbeit am Computer.

Gunz sitzt Stunden am Tag vor dem Rechner, fügt die Fundstücke zusammen. „Das mache ich nicht nur einmal, sondern über Wochen immer wieder neu“ Dabei gebe jedes Mal kleine Änderungen der Form. Aus den verschiedenen Modellen entsteht am Ende ein Schädelfragment, das die höchste Übereinstimmung hat.

Anschließend beginnt der Österreicher fehlende Knochenteile digital zu ersetzten. Das Vorgehen ist ähnlich. Immer wieder werden die Teile neu geformt und angeordnet. „Das ist eine Sisyphusarbeit“, sagt der Wissenschaftler. Nicht nur am Bildschirm, sondern auch mit der 3-D-Brille werden die Teile dreidimensional rekonstruiert. „Das geht nur eine begrenzte Zeit, dann bekomme ich Kopfschmerzen.“

Nun hat Gunz in den vergangenen Jahren nicht nur am Jebel-Irhoud-Projekt gearbeitet. Aus der ganzen Welt kommen von Ausgrabungen Fundstücke zu ihm, die zu einem neuen Ganzen zusammensetzt werden sollen. Insgesamt hat der Forscher aber wohl zehn Jahre an den wahrscheinlich ältesten Fossilien unserer Art gearbeitet. Das Ergebnis: Unsere ersten Vorfahren waren hoch aufgeschossene Gestalten von mehr 1,80 Meter Körpergröße. „Sie waren ausgezeichnete Jäger und gut ernährt.“ Menschen im Mittelalter wurden wegen Mangelernährung häufig nicht größer als 1,60 bis 1,70 Meter. „Anhand von statistischen Analysen der Schädelform auf Basis von Hunderten Messpunkten lässt sich nachweisen, dass sich die Gesichtsschädel der Jebel-Irhoud-Fossilien kaum von dem heute lebenden Menschen unterscheiden“, sagt Gunz. Doch was ist mit der länglichen Form?

Ur-Geschichte ermöglicht interessante Schlüsse zum heutigen Menschen

Einige Anthropologen sehen das als Hinweis, dass es sich bei den Wesen um Übergangsformen zum Homo sapiens handeln könnte. Der Leipziger Forscher nicht: „Die Evolution der Form und auch die Funktion des Gehirns fand innerhalb Homo sapiens statt.“ So habe sich das Kleinhirn in den vergangenen 300.000 Jahren noch entwickelt. Dies habe auch die Schädelform verändert. Gunz holt aus dem Schrank einen weiteren Schädel: Es ist die Nachbildung eines Neandertalers. Auf den ersten Blick wird durch die gewölbte Überaugenwülste sichtbar, dass es sich nicht um einen modernen Menschen handelt.

Gunz hat auch deshalb Anthropologie studiert, weil die Ur-Geschichte interessante Schlüsse zum heutigen Menschen ermöglicht. Auch wenn die wissenschaftliche Debatte um die Funde jetzt erst richtig beginnt, haben er und seine Kollegen bereits eines belegt: Es gibt nicht einen Ursprungsort der Menschheit.

Die Menschwerdung hat demnach in Afrika vielmehr an unterschiedlichen Orten gleichzeitig stattgefunden. Gunz meint: „Dieser reiche Pool erklärt vielleicht auch, warum die Menschen in der Straßenbahn auch heute noch höchst unterschiedlich aussehen.“ (mz)

Mit einer Computertomografie wurden fossile Teile gescannt, aus denen die Schädel rekonstruiert wurden. Die Gehirngröße (blau) unterschiedet sich zum heutigen Menschen.
Mit einer Computertomografie wurden fossile Teile gescannt, aus denen die Schädel rekonstruiert wurden. Die Gehirngröße (blau) unterschiedet sich zum heutigen Menschen.
MPI EVA