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Aufschwung Ost in Leipzig Aufschwung Ost in Leipzig: Mein Hypezig lob ich mir

Von Alexander Schierholz 01.08.2015, 14:55
BERNHARD ROTHENBERGER, Gastwirt, ließ sich zu Werbezwecken den Slogan „Leipzig - the better Berlin“ schützen.
BERNHARD ROTHENBERGER, Gastwirt, ließ sich zu Werbezwecken den Slogan „Leipzig - the better Berlin“ schützen. Andreas Stedtler Lizenz

Leipzig - Am Anfang war dieser Text: eine Reportage über die Leipziger Musik- und Kunstszene. Bernhard Rothenberger las sie in der New York Times. 2010, im Juli. Der Text lässt sich so zusammenfassen, dass in der kleinen sächsischen Großstadt alles viel besser ist als in großen deutschen Metropolen wie Berlin. Hipper. Cooler. Aufregender. „Leipzig - the better Berlin“, so wurde die Stadt dann noch im Lufthansa-Magazin beschrieben.

„Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf“, sagt Rothenberger, 54 und umtriebiger Chef des Leipziger Traditionsrestaurants „Auerbachs Keller“. Stammlokal von Goethe, Generationen von Schülern bekannt aus dem „Faust“. Rothenberger plante damals eine Marketing-Kampagne, um die Stadt - und damit seinen Laden - besser in Asien vermarkten zu können. Malaysia, Singapur, die Philippinen. „Man denkt immer, Goethe ist überall bekannt“, sagt Rothenberger, „aber dort können sie mit ihm wenig anfangen.“ Also dachte er sich: Man muss den Leuten sagen, was an Leipzig so toll ist. Und das in einem Satz.

In diesem Satz: „Leipzig - the better Berlin“. Er ließ sich den Slogan schützen und 50.000 Aufkleber drucken.

Die Kampagne ging schief, aus verschiedenen Gründen. Aber der Satz war nun einmal in der Welt - und machte sich selbstständig. Viele Leipziger pappten sich die Aufkleber auf ihre Autos. So war Leipzig plötzlich wieder in aller Munde. Und in allen Medien. Der Blogger André Herrmann erfand den Begriff „Hypezig“.

Mehr Geburten als Sterbefälle

Soweit die Folklore. Und nun ein Blick auf die Zahlen: Leipzig hat rund 550.000 Einwohner, jedes Jahr kommen etwa 10.000 dazu. Zum ersten Mal seit 65 Jahren übersteigt die Zahl der Geburten die der Sterbefälle. Die Stadt gehört zu den wenigen in Ostdeutschland, die wachsen. Während ringsherum alles ausblutet.

Was aber ist so toll an dieser Stadt, die gerade ihren 1.000. Geburtstag feiert?

Die Suche nach einer Antwort führt nach Neustadt-Neuschönefeld, ein Stadtteil östlich des Hauptbahnhofs. Ein Eckhaus, frisch saniert, im Erdgeschoss Ausstellungsräume. Im dritten Stock empfängt Stefan Kausch. Abgezogene Dielen, offene Küche, im Regal allerhand politische Literatur. Kausch, 39, Politologe, hat eigentlich keine Zeit, aber er nimmt sie sich.

Gerade organisiert er ein Kunstfest für seinen Stadtteil, im Brotberuf ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter eines SPD-Landtagsabgeordneten. „Hier haben fast alle einen akademischen Hintergrund“, sagt er. Kulturschaffende, Sozial- und Geisteswissenschaftler. Gemeinsam haben sie vor einigen Jahren das Haus von der Stadt gekauft und den Pögehaus-Verein gegründet, benannt nach einer ehemaligen Druckerei. Das Pögehaus ist eines von unzähligen Hausprojekten in Leipzig. Das Prinzip: selbst genutztes Eigentum, Wohnen, Arbeiten und Kultur unter einem Dach, Öffnung nach außen. Im Pögehaus organisieren sie Konzerte, Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen. Eine Kunstpädagogin betreut Flüchtlinge. Künstler können hier arbeiten und Gruppen wie die anonymen Alkoholiker. „Uns ist wichtig, denen Raum zu geben, die nicht im Rampenlicht stehen“, so sagt es Stefan Kausch.

Erste Hausprojekte

Er stammt aus Schleswig-Holstein, 1998 kam er zum Studium nach Leipzig. Damals gab es hier eine Handvoll alternativer Gruppen, Gründer der ersten Hausprojekte. Heute gibt es vielleicht 50 in der ganzen Stadt - eine Schätzung, genaue Erhebungen liegen nicht vor. Kausch fallen allein 20 in der näheren Umgebung des Pögehauses ein. Schon das ein kleiner Boom. „In dieser Dimension gab es das nur in Leipzig“, sagt er. In den 2000er Jahren begann die von aller Welt noch als schrumpfend interpretierte Stadt eine ungeheure Anziehungskraft auf bestimmte Gruppen zu entwickeln.

In der alternativen Szene, auch in Berlin, sprach sich rum: In Leipzig geht was. Partys, Clubs, Hausprojekte. „Auch dank einer - manchmal - aufgeschlossenen Stadtpolitik“, sagt Stefan Kausch, „konnte man hier eine Zeit lang mehr machen als anderswo.“ Konnte. Langsam wird es eng. Der Wohnungsmarkt ist praktisch leer gefegt, gerade im Leipziger Osten. Vor kurzem hat ein Investor einen halben Straßenzug auf einmal gekauft. Gerade liefern sich Hausprojekte und finanzkräftige Investoren einen Kampf um die letzten freien Objekte. Die Aussichten sind glänzend. Wer Geld in Immobilien anlegen will, kann in Leipzig höhere Renditen erzielen als in München. Noch sind die Grundstückspreise vergleichsweise niedrig.

Auf der nächsten Seite lesen Sie mehr zu Leipzigern und ihrem Hypezig.

Kausch sagt, am liebsten würde er alles so konservieren, wie es gerade ist. Die bunte Mischung im Stadtteil, die vielen Migranten (mit 32 Prozent der höchste Anteil in Leipzig), die Kultur, die Hausprojekte. Aber er weiß natürlich, dass das nicht möglich ist. Schon wegen der Mieten, die in der ganzen Stadt steigen. Gut fünf Euro kalt pro Quadratmeter zahlt man in Leipzig derzeit, im Durchschnitt. Sechs Prozent mehr als 2003. Bei neu vermieteten Wohnungen werden im Schnitt fast sechs Euro verlangt. Die Ausreißer nach oben erreichen in Spitzenlagen bis zu zwölf Euro.

Was passiert da gerade? Besuch bei Dieter Rink im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Der Stadtsoziologe forscht seit Jahren zum Leipziger Wohnungsmarkt. Das Prinzip, sagt er, ist immer das gleiche: Investoren sanieren alte Häuser und verlangen höhere Mieten als in der Umgebung. Andere Vermieter ziehen nach. „Sie nutzen ihren Spielraum“, sagt Rink, und holen auf. So werde Stück für Stück aus einer mittleren eine gute, dann eine sehr gute Lage. „Das ist ein Prozess“, sagt Rink, „der in vielen Fällen zunächst gar nicht sichtbar ist.“

Szeneviertel Lindenau

Er erzählt von Straßen im Szeneviertel Lindenau, wo mittlerweile nicht mehr ein einziger Hartz-IV-Empfänger wohnt. Das Amt zahlt ihnen die höhere Miete nicht mehr, neue Kneipen und Läden sind auf zahlungskräftigere Kundschaft ausgerichtet. So werden alteingesessene Bewohner mit schmalem Geldbeutel verdrängt. Gentrifizierung nennt man das. „In Berlin Prenzlauer Berg hat das zehn, fünfzehn Jahre gedauert“, sagt der Forscher. In Leipzig fängt es an.

Dieter Rink erfüllt diese Entwicklung mit Sorge. Wer sich ein bestimmtes Viertel nicht mehr leisten könne, werde häufig an den Stadtrand verdrängt, dorthin, wo die Mieten in Plattenbauten noch vergleichsweise günstig sind. „Da findet eine soziale Entmischung statt, die Stadtgesellschaft driftet auseinander.“ Sozialer Wohnungsbau könnte helfen gegenzusteuern. Den aber gibt es in Sachsen nicht. Stattdessen, beklagt Rink, werde überwiegend im gehobenen, gar im Luxussegment saniert und neu gebaut. Zu entsprechenden Preisen.

Wenn das Ganze ein Spiel wäre, dann wäre Steffen Göpel einer der Bösewichte. Aber so einfach ist das nicht.

Göpel, 49, ein ehemaliger Rennfahrer, sitzt in seinem Büro in einer Villa im Leipziger Musikviertel. Wand- und Deckengemälde, viel dunkles Holz, im Foyer hängt ein riesiger Kronleuchter über den Köpfen der Empfangsdamen. Im Hof parken schwere dunkle Limousinen. Hier residiert die GRK Holding, eine der großen Leipziger Immobilienfirmen. Steffen Göpel ist ihr Chef, Typ hemdsärmeliger Manager.

Luxussanierung also. Göpel kann es nicht mehr hören. „Platitüden!“, schimpft er, so pauschal könne man das gar nicht sagen. Bei Altbauten sei meistens eine Kernsanierung nötig, wegen des Hausschwamms. „Das kostet.“ Und überhaupt, die Auflagen für eine energetische Sanierung! Göpel schimpft nun auf die Politik: „Am besten sollen wir Niedrigenergiehäuser bauen, für fünf Euro Miete den Quadratmeter. Das geht nun mal nicht.“

Leipzig-Hype nicht vermutet

Das Geschäft der Sanierer brummt, auch bei der GRK. 700 Wohnungen richten sie gerade her, ein bisschen Neubau ist auch dabei. 350 Wohnungen im Jahr verkaufen sie, überwiegend an Kapitalanleger, immer öfter aber auch an Selbstnutzer. Seit fünf Jahren beobachtet Göpel ein zunehmendes Interesse an Eigentumswohnungen. Die Preise steigen auch hier.

GRK macht auch dort Geschäfte, wo man den Leipzig-Hype nicht vermutet. Mockau im Norden der Stadt, Essener Straße. Hier haben sie Mietshäuser aus den 1950er Jahren saniert. Unablässig rauscht der Verkehr vorbei. In der Nachbarschaft: Einfamilienhäuser und Plattenbauten. Keine schicke Bar, kein Bio-Laden. Im Einkaufszentrum nebenan gibt es einen Hörakustiker und ein Sanitätshaus. Hip ist hier gar nichts, und ruhig ist es nur nach hinten raus. Im Immobilien-Deutsch ist das eine „B-Lage“. Wenn Göpel davon erzählt, dann ist die Botschaft: Wir machen nicht nur Top-Adressen. Es wirkt wie eine Verteidigung.

Zurück bei Bernhard Rothenberger in „Auerbachs Keller“. Denn eine Frage ist ja noch offen in dieser Geschichte: Warum, bitteschön, ist Leipzig denn das bessere Berlin? Rothenberger wird jetzt zum Tourismus-Manager, der er eigentlich gar nicht sein will. Er gerät ins Schwärmen: Die Wohnqualität! Die Kultur! Die kurzen Wege! Die Seen rings um die Stadt!

Die meisten Neu-Leipziger kommen übrigens nicht aus Berlin, sondern aus Sachsen und Sachsen-Anhalt. Sagt Dieter Rink, der Stadtsoziologe. (mz)

STEFAN KAUSCH vom Pögehaus-Verein. Wohnen, Arbeiten und Kultur unter einem Dach, das ist die Idee des alternativen Hausprojekts, eines von unzähligen, die es in Leipzig mittlerweile gibt.
STEFAN KAUSCH vom Pögehaus-Verein. Wohnen, Arbeiten und Kultur unter einem Dach, das ist die Idee des alternativen Hausprojekts, eines von unzähligen, die es in Leipzig mittlerweile gibt.
Andreas Stedtler Lizenz
DIETER RINK. Der Stadtsoziologe beschäftigt sich am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung seit Jahren mit den Auswirkungen des Leipzig-Booms auf den Wohnungsmarkt.
DIETER RINK. Der Stadtsoziologe beschäftigt sich am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung seit Jahren mit den Auswirkungen des Leipzig-Booms auf den Wohnungsmarkt.
Andreas Stedtler Lizenz
STEFFEN GÖPEL, gelernter Bautischler, war der letzte DDR-Meister im Autorennsport in der Klasse bis 1.300 Kubikzentimeter. Heute führt er die GRK Holding, ein großes Leipziger Immobilien-Unternehmen.
STEFFEN GÖPEL, gelernter Bautischler, war der letzte DDR-Meister im Autorennsport in der Klasse bis 1.300 Kubikzentimeter. Heute führt er die GRK Holding, ein großes Leipziger Immobilien-Unternehmen.
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