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Ängste und Unsicherheit Ängste und Unsicherheit: Wie die Corona-Krise Obdachlose belastet

Von Walter Zöller 14.04.2020, 12:33
Gabenzäune wurde an mehreren Stellen in Leipzig von Privatpersonen errichtet. Dort werden Tüten - bestückt mit Essen, Kleidung und Hygieneartikeln für Obdachlose - hineingestellt.
Gabenzäune wurde an mehreren Stellen in Leipzig von Privatpersonen errichtet. Dort werden Tüten - bestückt mit Essen, Kleidung und Hygieneartikeln für Obdachlose - hineingestellt. Luisa Schneider

Leipzig/Halle - Für die obdachlose Frau ist der regelmäßige Kontakt zu Menschen wichtig, die wie sie selbst nirgendwo fest wohnen: Dass sie beispielsweise alle paar Tage in der Leipziger Innenstadt einem Mann begegnet, der auch auf der Straße lebt, mit ihm eine Zeit lang redet und so ein wenig darüber erfährt, wie es ihm geht. Das sind Alltäglichkeiten, die etwas Sicherheit geben und beiden helfen, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Mit dieser Sicherheit ist es nach dem Ausbruch der Corona-Krise vorbei.

Die Obdachlose hat den Mann nicht mehr getroffen, sie weiß nicht, ob er erkrankt ist, wie es ihm geht. Und sie weiß nicht, wie sie ihn erreichen kann. „Viele Obdachlose haben sich ein Netzwerk aufgebaut, das bricht jetzt weg“, berichtet Luisa Schneider.

Corona-Krise: Durchkommen ohne eigene vier Wände

Schneider ist Anthropologin am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle. Seit Mitte vergangenen Jahres beschäftigt sich die Wissenschaftlerin damit, unter welchen Umständen Menschen ohne eigene Wohnung in Leipzig leben. Sie hält engen Kontakt zu 27 Obdachlosen und lebt zeitweise auch mit ihnen zusammen.

„Auch diese Menschen sind natürlich stark verunsichert“, sagt Luisa Schneider. „Viele von ihnen leben jetzt fast wie in einem Vakuum.“ Die Obdachlosen, mit denen sie zusammentreffe, akzeptierten alle die strengen Regeln zum Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus. Es sei für sie aber wahrscheinlich noch schwerer, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden, als für Menschen, die nicht am Rand der Gesellschaft leben.

Hygiene gegen Corona - wie Händewaschen ohne Badezimmer?

Das lässt sich - so hat es die Forscherin erlebt - an vielen Dingen festmachen. Etwa am Beispiel des regelmäßigen Händewaschens. Es sei nun mal viel einfacher, die Hygienevorschriften einzuhalten, wenn man über ein eigenes Bad verfügt. Oder bei der Einschränkung der Kontaktmöglichkeiten: Die Menschen sollen, so die Behörden, mit ihrer Familie oder ihrem Partner wenn möglich in den eigenen vier Wänden bleiben? „Was aber, wenn es diese vier Wände nicht gibt?“, fragt die Wissenschaftlerin.

Die Antworten der Obdachlosen fallen unterschiedlich aus. Einige zögen sich, soweit es geht, zurück und hätten kaum noch Kontakt, hat Luisa Schneider erlebt. „Andere wollen sich gegenseitig schützen und Halt geben.“ Sie blieben in ihrer Gruppe - gingen aber auf Abstand. „Diese Obdachlosen sagen: ,Das ist meine Familie’“, berichtet Schneider.

Und sie versuchten, die Regeln, so gut es geht, einzuhalten. Vor der Corona-Krise hatten Obdachlose ab und an ein wenig Geld in der Tasche, sie sammelten Pfandflaschen oder bettelten. Diese „Einnahmequelle“ gibt es nach Erfahrungen der Anthropologin in Leipzig nicht mehr, wo auf den Straßen kaum noch etwas los ist.

Große Solidarität mit Obdachlosen in Leipzig

Greifen in dieser Situation in Leipzig die vorhandenen Hilfsangebot? Ja, sagt Luisa Schneider. Die Notschlafstellen seien nun ganztags geöffnet, dort würden Wohnungslose mit Essen und Getränken versorgt, wobei auch der Betrieb dieser Einrichtungen von den strengen Abstands- und Hygienevorschriften geprägt sei.

Die Straßensozialarbeiter leisteten gute Arbeit, Polizei und Ordnungsamt zeigten sehr viel Verständnis für die Situation der Menschen, für die die Straße ihr Zuhause ist. „Und es gibt eine große Solidarität in der Bevölkerung“, hat die Forscherin festgestellt. Das zeige sich etwa durch eine wachsende Spendenbereitschaft.

Wie wird das Alltagsleben aussehen, wenn das Virus besiegt ist? Aus ihren Gesprächen weiß Luisa Schneider, dass sich diese Frage auch viele Obdachlose stellen. Sie schwankten zwischen der Sorge, die Kluft in der Gesellschaft könne noch größer werden. Und der Hoffnung, dass die Hilfsbereitschaft über die Krisenzeit hinweg erhalten bleibt - auch im Umgang mit Obdachlosen. (mz)