Vor 100 Jahren Vor 100 Jahren: Vier Tote nach Explosion im Werk
Wittenberg - Ein schwerer Unfall am 16. November 1919 forderte in den Stickstoffwerken mehrere Menschenleben. In der Luftverflüssigungsanlage (Linde) hatte sich an jenem Sonntagmorgen 7.45 Uhr eine Explosion ereignet. „Dieser Betriebsunfall hat leider zu schweren Verletzungen von fünf Arbeitern geführt“, berichtete das Wittenberger Tageblatt am 18. November. „Dieselben wurden sofort, nachdem augenblicklich erste Hilfe geleistet wurde, in das Paul-Gerhardt-Stift überführt. Nach Ausspruch des behandelnden Arztes ist der Zustand von vier Arbeitern besorgniserregend.“
Die Reparaturen des beschädigten Anlageteils seien noch am selben Tag in Angriff genommen worden, hatte die Werksleitung mitgeteilt. Am Tag darauf vermeldete die Wittenberger Allgemeine Zeitung den Tod zweier Arbeiter, die bereits am Sonntag ihren Verletzungen erlagen. Es waren die Arbeiter Hermann Henschel aus Kleinwittenberg und Ottomar Steiniger aus Coswig, denen die Werksleitung einen Nachruf widmeten. Am 20. November starb ein dritter, Albin Schicker aus dem Vogtland. Mit dem Arbeiter Willi Schenke aus Kleinwittenberg, er war erst zwei Wochen verheiratet, starb am 27. November ein vierter Mann.
Arbeitslose gegen Auswärtige
Arbeit, vor allem gut bezahlte, war gefragt im November 1919. Mit den hiesigen Militärentlassenen und heimkehrenden Gefangenen entstand eine Konkurrenz zu jenen, die aus anderen Orten nach Wittenberg kamen, um in der Industrie Arbeit zu finden. „Eine Arbeitslosen-Versammlung fand gestern abend statt“, so die Allgemeine am 12. November. „Nach längeren Erörterungen beschlossen die zahlreich Erschienenen, durch eine Kommission bei der Werksleitung der Stickstoffwerke in Piesteritz vorstellig zu werden, daß die von Auswärts kommenden Arbeiter zur Entlassung gelangen und dafür hiesige Arbeitslose eingestellt werden.“
Bankchef verliert Brillanten
Über Diebstähle von Lebensmitteln, Geld und Fahrrädern berichteten die Blätter fast täglich. Ungewöhnlich war dagegen der Brillanten-Diebstahl, über den beide Zeitungen an 14. November Details enthüllten. Dabei war Schmuck im Wert von 7 000 Mark aus der Wohnung eines Bankdirektors gestohlen worden. Der Kreispolizeihund, so das Tageblatt, verfolgte „eine Spur nach dem Nachbarhause, wo er eine bessersituierte Dame stellte. Diese gestand nach hartnäckigem Leugnen schließlich den Diebstahl ein und gestand, die Kassette mit dem Inhalt auf dem Friedhof zwischen den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen versteckt zu haben, wo sie gefunden wurde.“
Manchmal gab es für den Dieb auch einfach eine Tracht Prügel. „Beim Diebstahl eines Brotes von einem in der Heubnerstraße stehenden Wagen eines Landbrotbäckers wurde gestern ein Lehrling abgefaßt und ihm das Brot sofort abgenommen, wobei dem Dieb mit schlagenden Beweisen das Ungehörige seiner Tat zu Gemüt geführt wurde“, so der Bericht des Tageblattes am 16. November.
Apfel blüht im Schnee
Anders als hundert Jahre später stellte sich der Winter 1919 bereits zum Novemberbeginn ein. „Starker Frost ist in vergangener Nacht aufgetreten, so daß heute morgen noch die Wassertümpel eine starke Eisschicht aufwiesen“, vermeldete das Tageblatt am 2. November. Vier Tage später stand in der Allgemeinen: „Ein blühender Apfelbaum ist gegenwärtig im Winklerschen Grundstück an der Ecke Luther- und Große Friedrichstraße zu sehen - gewiß eine Seltenheit im Schnee.“ Und Schnee gab es reichlich. In der Nacht zum 16. November und noch den halben Tag fielen davon bis zu 40 Zentimeter. Der Ostwind verursachte zudem Schneeverwehungen. Der Bahnverkehr war stellenweise unterbrochen.
„In der Stadt war der Schneepflug am Sonntag vormittag in ausgedehntem Maße tätig, die Fahrbahnen wenigstens einigermaßen freizulegen, während überall mit Schippen, Hacken, Besen und sonstigem Gerät gearbeitet wurde, um die Bürgersteige zu reinigen. Erfreulicherweise hat der Schneefall nachgelassen, nicht aber die Kälte, die mit unverminderter Strenge anhält“, so die Allgemeine weiter. Bereits am 18. November setzte Tauwetter ein, die Temperaturen lagen dann bei vier bis fünf Grad über Null.
Die Natur zeigte sich auch auf anderen Gebieten ungewöhnlich. „Eine auffällige Erscheinung bilden die vielen Schwalben, die in diesem Jahre zurückgeblieben und zum Verhungern oder Erfrieren verurteilt sind“, bemerkte die Allgemeine bereits am 2. November. „Zu Dutzenden flattern die armen Tierchen im Schneetreiben und Blätterfall umher.“
Über einen Unfall auf dem Pratauer Bahnhof berichtete das Tageblatt am 5. November. Zwei Tage zuvor am Nachmittag hatte eine Frau den Personenzug verlassen und „wurde von dem aus entgegengesetzter Richtung vorbeisausenden D-Zug erfaßt. Ihr wurden beide Beine über den Schenkeln abgefahren und der Körper gegen die Bordschwelle geschleudert. Der Tod trat sofort ein.“
Stadt baut Doppelhäuser
Ungewöhnliche Wege beschritt Oranienbaum, um dem auch dort herrschenden Wohnungsmangel entgegenzutreten. „Das hiesige Kurhaus ist dem Vernehmen nach, zur Behebung der Wohnungsnot, für 70 000 Mark in den Besitz der Stadt übergegangen“, schrieb das Tageblatt am 8. November. Drei Tage später berichtete das Blatt, dass die Stadt mit Reichs- und Staatszuschüssen zwei Doppelhäuser für vier Familien errichtet. „Die Häuser sollen Eigenheime werden“, hieß es. „Vier Wohnräume, Dachboden, Keller, sehr reichliche Stallungen und großer Garten werden bald fleißige Siedler schaffen sehen.“ Das war für damalige Zeiten wahrlich viel Platz. (mz)