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Landesdarre Landesdarre: Hinter den Kulissen der Annaburger Samenbank

Von Ute Otto 14.11.2017, 08:02
Hella Kalich ist technisch versiert. Sie kennt das Innenleben der alten Anlagen in der Annaburger Darre aus dem Effeff. Hier stellt sie die Entflügelungsanlage ein.
Hella Kalich ist technisch versiert. Sie kennt das Innenleben der alten Anlagen in der Annaburger Darre aus dem Effeff. Hier stellt sie die Entflügelungsanlage ein. Thomas Tominski

Annaburg - Selbst in den Pausen, beim Kaffee, wollen Viola Angielsky, Hella Kalich und Angela Werther von der Arbeit nicht lassen. Wie Aschenputtel Linsen, sortieren sie Siebgut von Lärchenzapfen, Reste der Stichproben, die sie zwischen einzelnen Siebgängen genommen haben. Augen und Tastsinn der Frauen sind darauf geeicht, leere Hülsen und Samenkörnchen voneinander zu unterscheiden.

Heike Borchardt, Leiterin der Annaburger Landesdarre, breitet die in einer Zuckerdose gesammelte Ausbeute in einem Kreis von etwa 15 Zentimetern Durchmesser auf dem Tisch aus. „Das ist schon ein kleiner Wald“, schätzt sie. Die Frauen wissen, mit welchen Werten sie umgehen.

Anfangs hieß es Säcke tragen

Viola Angielsky und Hella Kalich arbeiten seit 32 Jahren in der Annaburger Darre, die zum Betreuungsforstamt gehört und der Gewinnung von Saatgut für die Aufforstung von Wald dient. Es ist eine von neun staatlichen und die älteste in der ganzen Bundesrepublik, 1903 eingeweiht - technisches Denkmal.

Zwar sind einige Maschinen dazu gekommen, wie etwas das Becherwerk, mit dem die frisch angelieferten und noch geschlossenen Zapfen in den Trockenschuppen und zurück in die eigentliche Darre befördert werden. Früher hieß es, Säcke die schmalen Stiegen rauf und runter zu schleppen.

Schwere körperliche Arbeit mit Lärm, Hitze und Staub ist es dennoch geblieben. Diese teilten sich bis zur Wende bis zu elf Mitarbeiter, traditionell hauptsächlich Frauen, da die Männer früher als Zapfenpflücker eingesetzt waren. Heute werden die Baumfrüchte auf speziellen Plantagen zumeist maschinell geerntet.

Die große hölzerne Lore auf der obersten Etage des Trockenschuppens ist schon leer schwer zu bewegen, erst recht gefüllt mit 300 Kilogramm Zapfen, die auf die einzelnen Fächer verteilt werden. Nicht zu dicht dürfen sie liegen, denn in feuchtem Zustand drohen sie vor allem im Sommer zu überhitzen. Von den Mitarbeiterinnen werden sie regelmäßig gewendet. „Die Zapfen trocknen und reifen zugleich nach“, so Heike Borchardt.

Bröselnde Tanne

Wann es soweit ist, dass die Waldfrüchte in die Darre können, erkennen die Frauen an der Farbe der Zapfen. Während Fichten-, Kiefern- und Lärchenzapfen zunächst über Bodenöffnungen in die tiefere Etage und dann wieder mit dem Becherwerk hinüber befördert werden, brauchen Tannenzapfen einen behutsamen Umgang. Sie zerbröseln sehr schnell und dürfen daher auch nicht zu viel Wärme bekommen. „Wir müssen sie in Säcken in die Anlage bringen“, berichtet Hella Kalich.

Dort werden die Zapfen wärmebehandelt, zunächst in der Vordarre, damit sie sich öffnen, dann in der Trommeldarre, wo der Samen herausgeschüttelt wird. „Jede Baumart hat ihr eigenes Temperaturregime“, sagt Hella Kalich. Zwar wird die Temperatur computerüberwacht, aber auch hier spielt die Erfahrung der Mitarbeiterinnen eine große Rolle. Am Knistern hören sie, wie weit der Prozess in der Vordarre fortgeschritten ist. Das sind Dinge, die kein Lehrbuch beschreiben kann.

Die Frauen erkennen die Baumarten auch am Geruch und am Geschmack des Staubes, der sie unvermeidlich umgibt, wenn sich die Trommel dreht oder die Siebe rütteln. „Fichte schmeckt bitter“, sagt Viola Angielsky.

Der alte Ofen, mit dem die Darre beheizt wird, ist Museumsstück. Geheizt wird mit einer modernen Holzvergaseranlage. Aber die möchte zweimal täglich gefüttert werden. An den Wochenenden wechseln sich die Frauen dafür ab. Die Holzscheite haben andere Abmaße als beim heimischen Kamin. „Wir brauchen kein Fitnessstudio“, sagt Angela Werther. Die gelernte Forstwirtin ist erst seit knapp einem Jahr im Team, hat aber die Mitte fünfzig auch schon überschritten.

Die Älteste ist Viola Angielsky mit 59 Jahren, ihr Erstberuf ist Textilfacharbeiterin. „Wir verstehen uns blind“, sagt Hella Kalich (55). Sie hat Maschinistin für Hauptanlagen gelernt. Ihr technisches Verständnis ist in der Darre von unschätzbarem Wert. Nicht nur, dass sie kleinere Reparaturen selbst erledigen kann. Sie tüftele auch an der Technik, wenn die Zapfen überlistet werden müssen, erzählt die Chefin. Zum Beispiel an den Sieben der Entflügelungsanlage.

99 Prozent Reinheitsgrad

Hier werden die Flügelchen, die in der Natur den Samen davon tragen, von den Körnern getrennt. Das Prinzip entstammt der Mühlentechnik. Was leichter ist, wird per Luftstrom angehoben und abtransportiert. Genau so werden auch leere Samenkapseln maschinell aussortiert. An Stichproben sehen die Frauen, wie gut die Reinigung funktioniert, ob sie möglicherweise ein weiteres, feineres Sieb hinzufügen müssen.

Ein Reinheitsgrad von 99 Prozent wird für Qualitätssamen verlangt. In der Saatgutprüfstelle wird das untersucht, wie auch die Keimfähigkeit. Jede Partie hat Begleitpapiere, „da muss man den Überblick behalten“, so Borchardt. Vor allem wenn mehrere Partien am gleichen Tag angeliefert werden. Beim Wechsel der Baumarten muss die Anlage bis in die letzte Ritze gereinigt werden.

In diesem Jahr waren die Frauen zum ersten Mal beim Treffen aller neun Klengen, wie die Forstdarren auch genannt werden, in Trippstadt (Rheinland-Pfalz) und haben festgestellt: „Woanders wird auch nur mit Wasser gekocht.“ Heike Borchardt denkt mit Sorge ins nächste Jahrzehnt voraus. Wenn diese Mitarbeiterinnen in Rente gehen, „geht mit ihnen eine Menge Wissen“. Wissen, das in keinem Lehrbuch steht. (mz)

Die drei Mitarbeiterinnen der Landesdarre: Hella Kalich, Angela Werther und Viola Angielsky (v. li.)
Die drei Mitarbeiterinnen der Landesdarre: Hella Kalich, Angela Werther und Viola Angielsky (v. li.)
Thomas Tominski
Am Kaffeetisch wird die Spreu vom Weizen getrennt.
Am Kaffeetisch wird die Spreu vom Weizen getrennt.
Otto