Fachtagung Sucht in Zemnick Fachtagung Sucht in Zemnick: Das Leben trocken rocken

Zemnick - „Von den letzten 13 Jahren war ich zwölf nicht besoffen“, sagt Dirk Marx über sich und gibt zu, einen Rückfall gehabt zu haben - nach dem Tod seines Bruders. Der Mann aus Königs Wusterhausen meint aber, nun seinen Weg der Suchtbewältigung gefunden zu haben: „Ich schreibe auf, was mich bewegt.“
Gemeinsam mit dem Musiker und Liedermacher Martin Wiggert aus Berlin war der 45-jährige Buchautor („Ich durfte neue Wege gehen...“ - Gedichte, Anekdoten und Erinnerungen, 2016 erschienen) bei der dritten Fachtagung Sucht der Heporö gGmbH in Zemnick unter vielleicht 70 Teilnehmern die Stimme der Betroffenen. Deren Perspektive einfließen zu lassen, „ist uns immer wichtig“, betonte die geschäftsführende Heporö-Gesellschafterin Simone Rohde.
Musik und Lesung
In der von den Anwesenden begeistert aufgenommenen musikalischen Buchlesung der beiden Akteure waren die Rollen klar verteilt: „Ich lese die Texte und Martin singt. Das ist besser so - für uns alle“, erklärte Dirk Marx lachend. Martin Wiggert gehört seit 15 Jahren einer Suchthilfegruppe in Berlin an, in der er mittlerweile selbst therapeutisch tätig ist. Dabei hat er auch Dirk Marx kennengelernt.
Mit Blick auf die fundierten Fachvorträge beim Suchttag im Zemnicker Gemeinschaftshaus meinte Dirk Marx, dass die therapeutischen Belange für die Betroffenen nach seinem Empfinden recht gut aufgearbeitet werden. Aber wie sehe es mit dem Vertrautmachen des sozialen Umfelds von Alkoholkranken mit deren Lebenswelt aus?
Mit dem Vermitteln von Informationen über Betroffene und von ihnen? „In dieser Mission sind wir unterwegs“, verkündete er. Während des Wechsels von sehr emotionalen, aber auch geistreich-lustigen Liedern und Gedichten wurde schnell deutlich: Alkoholabhängige haben Nichtbetroffenen so einiges zu sagen.
Ein Beispiel dafür ist „Formulier’s doch mal neu!“. Hier ein paar Zeilen daraus: „Meine Freundin ging fremd mit meinem Freund, meinem besten. Warum muss das Leben gerade mich so hart testen? Ich formulier’s noch mal neu: Mein vermeintlicher Freund - ’ne Enttäuschung. Meine Beziehung vorbei. Doch gehör’n zum Beziehung zerstör’n nicht mindestens zwei? Vielleicht hätt’ meine Freundin ’ne andre Entscheidung getroffen, hätt’ ich zu ihr gestanden und nicht so viel gesoffen?“
Trotzdem liebenswert
Zu diesem Kapitel erzählte Dirk Marx, dass ihn seine damalige Freundin ausgerechnet verlassen habe, als er zur Entgiftung in der Klinik war. Warum gerade da? „Da warst du sicher. Zu Hause hätte ich Angst gehabt um dich“, sei bei einem späteren Gespräch ihre Antwort gewesen. „Seither ist unser Verhältnis zueinander besser als früher, als wir zusammen waren“, berichtete der 45-Jährige.
Dazu passt dieser Abschnitt aus „Formulier’s doch mal neu!“: „...Bin auf dem Weg, mein Leben wieder trocken zu rocken. Ich schau in den Spiegel: Was ich da seh’, is’ nich’ verkehrt! Bin Alkoholiker, ditt stimmt. Und trotzdem liebenswert!“
Um die Verbindlichkeit von Regeln in der Suchttherapie und Konsequenzen bei deren Nichteinhaltung ging es im Vortrag von Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Sozialmedizin, der Chefarzt der Hartmut-Spittler-Klinik in Berlin ist, zog diesbezüglich Parallelen zur Erziehung von Kindern. Man müsse mit dem Klienten nachvollziehbare Regeln vereinbaren, einschließlich angemessener Konsequenzen bei Nichteinhaltung.
Für diesen Prozess forderte er völlige Transparenz, denn Sanktionen bis hin zur Entlassung aus der Einrichtung/Klinik müssten dem Betroffenen immer vermittelbar sein. Es gehe prinzipiell auch nicht darum, die Sucht gegenüber dem Betroffenen moralisch zu bewerten, sondern die Risiken aufzuzeigen.
„Bei stoffgebundenen Abhängigkeiten“, so veranschlagte der Fachmann, „braucht das Gehirn über die Entziehung hinaus mindestens ein halbes Jahr, um sich ein Leben ohne Suchtmittel überhaupt vorstellen zu können. Alternativen müssen im Gehirn erst ihre Bahnen aufbauen.“
Darius Chahmoradi Tabatabai merkte an, dass Alkoholkranken wider besserer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer noch das Stigma anhänge, selber schuld zu sein an ihrem Leiden. Die Ablehnung von Alkoholkranken in der Bevölkerung sei größer als z.B. jene von Schizophrenen. Dementsprechend sähen viele bei der Therapie von Alkoholabhängigen am ehesten Einsparpotenziale. Das sei angesichts der dramatischen durch Alkoholismus direkt oder indirekt verursachten Kosten ein Fehlurteil.
Unterscheidungsmerkmale zwischen Alkoholsucht und Abhängigkeit von illegalen Drogen arbeitete Dr. Eckart Grau heraus. Dabei sagte der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie, er ist Chefarzt im Diakonie-Krankenhaus Elbingerode: „Alkoholkranke sind leichter zu analysieren als Drogenabhängige“. Letztere seien risikofreudiger als Erstgenannte.
Und: „Alkoholpatienten sind oft die Älteren, die Jüngeren nehmen Drogen.“ Hinzu komme, dass man bei illegalen Drogen aus einem breiten verfügbaren Spektrum passgenau den Stoff für sich aussuchen könne. Daraus resultiere eine längere Bindung. Die Folge: „Mit 25 kommt der seit 13 Jahren Drogenabhängige in die Klinik, vom Verhalten her ist er 15 und was seine Schmerzbelastbarkeit angeht gerade mal zwei.“
Denn illegale Drogen fixierten die Unreife. Eigentlich nur über die Lieblingsdroge, so der Experte, könne man darauf schließen, woran die Seele des Abhängigen kranke. Und in diesem Bereich müsse die Therapie dann Handlungsalternativen erschließen.
Studienpreis verliehen
Zum dritten Mal überreichte Simone Rohde bei der jüngsten Suchttagung den mit 500 Euro dotierten Friedhelm-Röse-Preis. Er ging an Rüdiger van de Schepop für dessen Masterarbeit. Darin hat er alkoholkranke Patienten in der Rehabilitation unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren danach klassifiziert, ob sie bereit sind, an einer Raucherentwöhnung teilzunehmen oder nicht.
Das ist für die Therapie von Alkoholkranken relevant, weil diese zu 95 Prozent auch Raucher seien. Sein Fazit: Es wäre entgegen der bisherigen Praxis besser, die Entwöhnung von beidem zu kombinieren.
Die Eltern des 36-Jährigen sind beide Niederländer. Er hat an der TU Dresden seinen Bachelor in Psychologie gemacht und an der Medizinischen Hochschule Brandenburg in Neuruppin seinen Master. Nach sieben Jahren Studium - keine ungewöhnliche Spanne, wie er sagt - ist er damit im Oktober 2018 fertig geworden. Vor seinem Studium war er drei Jahre in der Obdachlosenbetreuung in Kreuzberg aktiv.
Nun hat er das Angebot, als Psychotherapeut an der Salus-Klinik in Lindow bei Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer, der ihn im Masterstudium begleitete, zu arbeiten. (mz)


