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Grundrechte und Bill Gates Corona-Pandemie: Demonstrationen gegen Verordnungen in Sangerhausen und Hettstedt

Von Felix Fahnert und Grit Pommer 20.05.2020, 07:15
Versammlung gegen die Corona-Verordnungen: In Hettstedt kamen rund 130 Menschen zusammen.
Versammlung gegen die Corona-Verordnungen: In Hettstedt kamen rund 130 Menschen zusammen. Felix Fahnert

Sangerhausen/Hettstedt - Kurz nachdem der Glockenschlag um 19 Uhr erklingt, setzt sich die Menge auf dem Hettstedter Markt in Bewegung. Gut 130 Menschen haben sich am Montagabend hier zu einem Spaziergang gegen die Corona-Verordnungen versammelt. Es geht durch die Innenstadt, um ein Zeichen zu setzen.

Unter den Teilnehmern ist auch Jürgen Stüwe, der einst für die SPD im Hettstedter Stadtrat saß. „Die Fallzahlen sind so gering, die Maßnahmen widersprüchlich“, sagt er. Er sei kein Leugner des Virus, aber er halte die Verordnungen für völlig überzogen. Und es sei eine „Frechheit“, dass jeder, der sich an den Protesten dagegen beteiligt, als Rechter oder Verschwörungstheoretiker gilt.

Corona-Pandemie: Demonstrationen gegen die Verordnungen

Er erkenne an dem Spaziergang „nichts Politisches“. Wenige Meter von ihm entfernt laufen derweil offenkundige Vertreter der rechten Szene, tragen T-Shirts, die in Neonazikreisen beliebt sind. Sie sind an diesem Montagabend jedoch in der absoluten Minderheit.

„Die Grundrechte werden doch mit Füßen getreten“, erklärt ein anderer Mann überzeugt. „Man darf nichts mehr sagen, und darf nicht mehr raus gehen.“ Sagt er, während er mit mehr als 100 Leuten auf dem Hettstedter Marktplatz steht und seine Meinung kundtut. Darauf angesprochen sagt er, man werde aber in die rechte Ecke gestellt und habe Konsequenzen zu befürchten.

Hettstedt: Unterschiedliche Beweggründe der Demonstranten

Ganz vorne spaziert Kreistagsmitglied Reiner Kretschmann (AfD). Er hat sich in eine Deutschlandflagge gehüllt. „Ich bin kein Nationalist, aber ein Patriot.“ Bei Facebook verbreitet Kretschmann Beiträge, wonach Bill Gates derzeit die Strippen ziehe und Angela Merkel „die größte Verbrecherin und Mörderin, die Deutschland jemals hatte“, sei.

Dass die Meinungen der Teilnehmer arg unterscheiden, zeigt auch eine Gruppe von vier  Frauen, die am Ende noch auf dem Markt stehenbleibt. Bill Gates  wolle einen Großteil der Weltbevölkerung auslöschen, sagt die eine. „Das hat er selbst zugegeben.“ Das Beweisvideo sei jedoch  mittlerweile von Youtube gelöscht worden. „Keiner hinterfragt mehr, keiner denkt mehr selbst“, heißt es über die  aktuelle Gesellschaft. Gegen die Zuschreibung „Verschwörungstheoretiker“ verwahren sie sich jedoch. Vermeintliche Beweise, die von Wissenschaftlern und Politikern kommuniziert werden, werden nicht akzeptiert.

Und schließlich wird gesungen in Hettstedt. „Die Gedanken sind frei“ erklingt, alle singen mit, danach brandet Applaus auf.

Bürgermeister Dirk Fuhlert bittet um Anmeldung der Versammlung

Bürgermeister Dirk Fuhlert (parteilos) bat derweil darum, die Versammlungen künftig anzumelden. „Ich habe nichts gegen jegliche Art von Willensbekundung, auch nicht gegen die Corona-Maßnahmen“, sagte Fuhlert der MZ. Es sei jedoch angebracht, den offiziellen Weg zu gehen und auch Vorgaben wie Mindestabstände einzuhalten. Im Internet sei dazu aufgerufen worden, es habe Sprechchöre gegeben. „Das hat dann schon den Charakter einer Demonstration.“ Diese könne man offiziell durchführen - auch in Corona-Zeiten.

Demonstrationen auch in Sangerhausen

Auch in Sangerhausen wurde am Montagabend mit einem Spaziergang protestiert. Zehn vor sieben ist es noch fast leer auf dem Markt in Sangerhausen. Ein älterer Herr schaut ein bisschen zweifelnd erst auf seine Uhr und dann in die Runde. Bekannte seien in der Woche zuvor beim Abendspaziergang dabei gewesen, erzählt er. Jetzt will er auch mitmachen. „Ich will mir nicht alles vorschreiben lassen“, sagt der 71-Jährige freundlich, aber bestimmt. Ob und wie er sich vor Corona schützt, das will er selbst entscheiden.

Im Termin am Montagabend hat er sich jedenfalls nicht geirrt. Aus allen Richtungen kommen jetzt Menschen zusammen. Es ist ein Querschnitt durch die Gesellschaft: alle Altersgruppen, alle Schichten. René Brodmann, der eine Woche zuvor den Anstoß zum ersten großen Spaziergang in Sangerhausen gegeben hatte, hat diesmal nichts angekündigt. Trotzdem sind rund 100 Leute da. Brodmann hat Blumen mitgebracht, verteilt Gerbera und Nelken. „Es soll friedlich bleiben“, sagt er.

„Wahrscheinlich hat jeder seine eigene Wahrheit“

Wer sich mit den Spaziergängern unterhält, spürt große Vorbehalte gegen den Staat und alles, was von dieser Seite an Informationen kommt. Vertraut wird dem, was im Netz steht. Dass Bill Gates die Menschheit dezimieren will. Dass Tierhalter angeschrieben werden, damit sie ihre Bestände  impfen lassen und Impfgegner das Mittel dann über das Fleisch aufnehmen. Dass Masken nicht den Ausstoß von Tröpfchen reduzieren, sondern nur ein Instrument zur Unterdrückung sind. Was aber ist die Wahrheit? Wer kennt sie wirklich? „Wahrscheinlich“, meint eine Frau nachdenklich, „hat eben jeder seine eigene Wahrheit.“

Die Polizei ist in Sangerhausen diesmal nur mit zwei Beamten vor Ort. Niemand hindert die Menschen daran, eine große Stadtrunde zu laufen und anschließend auf dem Markt noch eine Weile in Grüppchen zusammenzustehen. (mz)