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Alternative Lebensart Move Utopia in Harzgerode: Junge Menschen veranstalten ökologisches Festival im Ostharz

Von Steffen Könau 13.07.2019, 10:00
Friederike Habermann (l.) und Luisa Kleine  vor dem Bauhaus-Gebäude der ehemaligen Lungenheilanstalt bei Harzgerode, wo bis zum Sonntag  Vertreter von alternativen Bewegungen zum Move-Festival zusammenkommen.
Friederike Habermann (l.) und Luisa Kleine  vor dem Bauhaus-Gebäude der ehemaligen Lungenheilanstalt bei Harzgerode, wo bis zum Sonntag  Vertreter von alternativen Bewegungen zum Move-Festival zusammenkommen. Steffen Könau

Harzgerode - Das ist jetzt alles etwas hektisch. Überall Menschen, die Zelte aufbauen, Feuerholz hacken, Suppe kochen, Schilder malen, Fragen haben. Mittendrin steht Luisa Kleine, rotes Kleid, feste Schuhe und ein schmales Tuch um den Kopf, und dirigiert, was auf den ersten Blick wie das reine Chaos aussieht: Das Move-Utopia-Festival ist zu Besuch im Ostharz.

Versteckt im Wald auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Lungenheilstätte am Rande von Harzgerode, diskutieren zumeist junge Leute aus ganz Deutschland und Europa ein Wochenende lang über Alternativen zum herrschenden Wirtschaftssystem.

Abends werden auch Liedermacher und Rockgruppen spielen, aber Move ist weder Lagerfeuerparty noch Popkonzert.

„Miteinander, offen, vertrauensvoll, emanzipatorisch“, so buchstabieren die Organisatoren den Namen der viertägigen Versammlung von Kommunen, Ökodörfern, Permakulturanhängern, offenen Werkstätten, Direkthändlern und Leuten, die versuchen, geldfrei zu leben.

Für Friederike Habermann, die auf der Suche nach Alternativen zum ressourcenverschlingenden Wirtschaftssystem der Marktwirtschaft bei Gesellschaftsordnungen landete, die nicht nur ohne Geld, sondern sogar ohne den permanenten Tausch von Leistungen und Waren funktionierten, ein Stückchen Utopia im Ostharz.

„Wir versuchen, hier nach dem Prinzip des Beitragens zu leben, so dass jeder nur macht, was er möchte.“ Die studierte Volkswirtin und Historikerin, die in einer Kommune in Brandenburg lebt, glaubt, dass gemeinsames Wirtschaften auch nach den Prinzipien von „Besitz statt Eigentum“ und „Beitragen statt Tauschen“ funktionieren kann.

„Besitz statt Eigentum“ und „Beitragen statt Tauschen“

„Auf keinem Familienfest und bei keiner Party im Freundeskreis würde jemand auf die Idee kommen, seinem eigenen Beitrag einen Tauschwert zuzumessen und zu sagen, ich wasche deinen Teller nur ab, wenn du mein Würstchen mitbrätst.“

Genau wie Geld unterstützt Tauschen aus Sicht der 51-Jährigen herrschende Ungerechtigkeiten. Nicht zu tauschen - oder wie sie sagt, sich der „Tauschlogik entziehen“ - sei deshalb nur eine „Wiederentdeckung des Selbstverständlichen“, so Friederike Habermann.

„Wer wie die Völker in Afrika nur etwas zu tauschen hat, dem die Industriegesellschaften keinen Wert beimessen, der muss eben verhungern.“

Für Habermann und Kleine ist es nicht normal, zu tauschen. Nicht einmal, wenn wie beim Move-Festival tausend Gäste auf einem riesigen Gelände zusammenkommen. Wer hier Gemüse schnippelt, macht das freiwillig, wer kocht, wer Holz hackt, Plakate malt, im Orga-Team mitarbeitet oder Gitarre spielt ebenso.

„Natürlich gibt es strukturelle Zwänge“, beschreibt Luisa Kleine. So lasse es sich nicht vermeiden, dass die Beziehungen des Move nach außen meist nach dem Prinzip von Nachfrage und Angebot abgewickelt werden müssen.

„Die Zelte, die wir hier für unsere Diskussionsrunden, Barrios und Workshops brauchen, müssen wir natürlich mit Geld bezahlen.“

Einer von vielen „Widersprüchen und Kompromissen“, wie es die 22-Jährige nennt, der nur zu bewusst ist, dass Utopia auch im wunderschönen Wald bei Harzgerode kein Ort ist, sondern ein Ziel. „Aber für uns ist klar, dass es ein lokaler Anbieter sein soll, von dem wir mieten.“

Klein: „Ich habe gefragt, warum manche Leute reich sind und andere arm“

Die junge Frau mit den großen blauen Augen hat schon als Kind erste Zweifel daran gespürt, dass auf der Welt alles mit rechten Dingen zugeht. „Ich habe gefragt, warum manche Leute reich sind und andere arm“, sagt sie, „aber eine richtige Antwort gab es nicht.“

Nach der Schule zog Kleine also selbst los, nach Gründen und Auswegen zu suchen. „Ich habe im Ashram gelebt und in besetzten Häusern, bin geldfrei gereist und habe mich nach alternativen Lebensweisen umgeschaut.“

Luisa Kleine, die Kunst studiert, lebt inzwischen in einer Kommune in Kassel, sieht aber die Gerechtigkeitsfrage immer noch als „Motor, der mich antreibt, die Welt ändern zu wollen“.

Beim Move-Utopia geschieht das durch Zusammensein und Selbstvergewisserung im Kreise Gleichgesinnter und ähnlich Motivierter und durch die Vernetzung von Gruppen wie den Rainbow-People mit den Globalisierungskritikern von Attac oder den Umweltschutzaktivisten vom WWF.

„Miteinander, offen, vertrauensvoll, emanzipatorisch“

Doch das Festival soll darüberhinaus auch nach außen strahlen und zeigen, „dass es Alternativen gibt“, wie Luisa Kleine sagt.

Deshalb seien am Samstagnachmittag auch alle Menschen aus der Region um Harzgerode eingeladen, auf dem Gelände der vor 20 Jahren geschlossenen alten Heilanstalt vorbeizukommen und sich selbst ein Bild von den Leuten und den Debatten auf dem Move zu machen.

„Wir möchten ganz offen sein mit dem, was wir hier tun“, sagt Richard Schmid, einst Mitbegründer der Grünen in der alten Bundesrepublik, später aktiv in vielen sozialen Bewegungen in und um Halle und seit einiger Zeit selbst Harzgeröder.

Für den 65-Jährigen, der zeitlebens in Sachen Naturschutz, Anti-Atomkraft, Gerechtigkeit und Abrüstung unterwegs war, ist der Blick über die Zelte, die schon auf dem Move-Gelände stehen, überaus ermutigend.

Systemwandel statt Klimawandel

„Die Leute sind jung, sie haben ihre eigenen Fragen und lassen sich nicht mit Ausflüchten abspeisen“, sagt der ursprünglich aus Bayern stammende Soziologe und Jurist, der seinen Beitrag zur Veränderung der Welt bei Attac, Occupy Wall Street, dem Erwerbslosenausschuss von Verdi, bei der Piratenpartei und in der Ökodorfbewegung leistet.

Auch Luisa Kleine bemerkt die Politisierung ihrer Generation, weit abseits der traditionellen Parteien und Gefechtslinien. Öffentlich sei meist nur die Fridays-for-Future-Bewegung zu sehen.

„Aber wir haben schon vor zwei Jahren bemerkt, dass der Andrang zum Move extrem zunimmt, weil die Zweifel am Kapitalismus bei vielen wachsen und sich alle fragen, was dann kommen könnte.“

Fertige Antworten wird es auch nach dem Move nicht geben. Aber vielleicht ein Stück mehr Gewissheit darüber, dass es sie gibt.

Einzelheiten zum Programm: www.move-utopia.de

Das Klima allein ist ihnen nicht genug: Die tausend Öko-Aktivisten, Geldverweigerer und  Kommunarden, die sich in Harzgerode treffen, wollen das Wirtschaftssystem verändern.
Das Klima allein ist ihnen nicht genug: Die tausend Öko-Aktivisten, Geldverweigerer und  Kommunarden, die sich in Harzgerode treffen, wollen das Wirtschaftssystem verändern.
Steffen Könau