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Buchvorstellung Erste Küsse am Lagerfeuer im Güntersberger Pionierlager

Warum oft noch heute die Augen leuchten, wenn von den Ferienlagern der Kindheit geredet wird. Der Historiker Marcel Piethe stellt seine Dokumentation vor.

Von Uwe Kraus 09.08.2021, 10:00
Das Foto von 1978 zeigt Kinder und Jugendliche im Ferienlager ?Erich Weinert? in Friedrichsbrunn.
Das Foto von 1978 zeigt Kinder und Jugendliche im Ferienlager ?Erich Weinert? in Friedrichsbrunn. Foto: Zentralbild

Güntersberge/MZ - Es ist die beste Zeit, über die Ferien der Eltern und Großeltern oder die eigenen Erfahrungen in Zentralen Pionierlagern wie in dem Güntersberger Pionierlager „Werner Seelenbinder“ des VEB Eisenhüttenwerke Thale zu berichten.

Viele Teilnehmer erinnern sich bis heute an schöne Wochen im Betriebsferienlager, ob nun an der Ostsee, zwischen Märkischer und Mecklenburger Seenplatte oder vor der Haustür im Harz. In der DDR Geborene bekommen zumeist leuchtende Augen, wenn man sie nach ihren schönsten Kindheits- und Jugenderlebnissen während der Sommerwochen fragt, und antworten mit strahlenden Gesichtern: „Ferienlager!“

Kein ostalgischer Blick in die Vergangenheit

So erscheint Jahrzehnte nach dieser Zeit das Buch „Blaue Wimpel im Sommerwind“. Der Historiker Marcel Piethe recherchierte lange Zeit zu diesem emotionsbehafteten Thema und stellt nun seine Dokumentation zu Ferien- und Pionierlagern in der DDR vor. Seinen regionalen Schwerpunkt legt er zwar auf das heutige Land Brandenburg, aber viele der geschilderten Erlebnisse und Ferienaktionen wiederholten sich in allen Zipfeln der verblichenen Republik. Piethe entreißt Neptunfeste, Nachtwanderungen und Diskotheken, Strandburgen, Lagerfeuer-Lieder und erstes Knutschen sowie den oft tränenreichen Abschied dem Vergessen.

Er wirft keineswegs einen ostalgischen Blick zurück, denn viele Kinder erlebten auch die Kehrseite vom „VEB Kinderbetreuung“. Jeder hat ganz individuelle Erinnerungen, zu denen in recht unterschiedlicher Ausprägung Heimwehschmerz, Fahnenappelle, straffer Frühsport und Luftgewehr-Schießen gehörten.

Freundschafts-Gruppenratsvorsitzende oder junge Agitatoren wurden geschult

Die mehr als 5.000 Betriebsferien- und 48 zentralen Pionierlager besuchten nach Angaben des Autoren jährlich rund eine Million Kinder für bis zu drei Wochen. In die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ am Werbellinsee, die ein eigenes Schulgebäude nutzte, schickte man sogar über die komplette Schulzeit zu allen Jahreszeiten für sechs Wochen die besten Pionierfunktionäre. So sollen aus dem ehemaligen Landkreis Quedlinburg dort jährlich 60 Mädchen und Jungen der Klassen sechs und sieben als Freundschafts-Gruppenratsvorsitzende oder junge Agitatoren geschult worden sein.

Den reich bebilderten Band tragen nicht nur subjektive Erinnerungen, sondern auch viele Fotos lassen die oft durchaus nicht üppig ausgestatteten Zelte und Bungalows wieder auferstehen, erinnern an Manöverspiele und Begegnungen mit Kindern aus anderen Ländern bis hin zu Delegationen aus der BRD oder von Gruppen aus den ausländischen Partnerfirmen der Trägerbetriebe.

Diese DDR-Betriebe und Kombinate sorgten mit hohem personellen und finanziellen Aufwand für den Ferienspaß der Kinder. Deren Eltern beteiligten sich eher mit symbolischen Beträgen von wöchentlichen rund zehn DDR-Mark an der Finanzierung des Freizeitvergnügens.

Versuch der Aufarbeitung der Ferienlager-Tradition

Piethes 168 Seiten starkes Werk startet einen ersten Versuch der Aufarbeitung der bis in die 1930er Jahre zurückführenden Ferienlager-Tradition. Nicht alle Abbildungen sind mit korrekten und konkreten Informationen ausgestattet, viele entstanden nicht mit den einfachen Fotoapparaten der Beteiligten, sondern im offiziellen Auftrag, so dass vor allem staatliche Archive Basis der Fotoauswahl sind. Was gänzlich unerwähnt bleibt, ist die Ferien- und Rüstzeit-Gestaltung jenseits der ideologisch aufgeladenen DDR-Pionierorganisation „Ernst Thälmann“. Unberücksichtigt bleiben neben den Betreuungsangeboten in Winter-, Frühjahrs- und Herbstferien auch die Spezialistenlager, die einst sehr fachbetont von jungen Mathematikern über Feuerwehrleute, Sanitäter oder Naturforscher bis zu Probenwochen von Orchestern, Singeklubs und Chören mehr als ein Fünftel der Teilnehmer in den insgesamt fast 14 Wochen währenden Ferien ausmachten.

Marcel Piethe: „Blaue Wimpel im Sommerwind“, Verlag für Regional- und Zeitgeschichte, 168 Seiten, 16,80 Euro