Neuer Roman von Matthias Jügler Wo Flüsse trösten
In seinem Roman „Maifliegenzeit“ erzählt Matthias Jügler von einem Elternpaar, dem in der DDR der Tod des neugeborenen Kindes vorgetäuscht wurde, um es zur Adoption freizugeben.

Halle/MZ. - Der Roman beginnt mit einem starken Satz. „Wo die Ungewissheit endet, sagte mein Vater vor langer Zeit einmal, beginnt das Träumen.“ Vor langer Zeit, das meint die Kindheit des Ich-Erzählers Hans, Jahrgang 1953. Ein Naumburger Lehrer, der im Gebiet der Unstrut lebt, wo er jetzt diesem Satz nachsinnt. Rätselhaft für ihn, mutmaßlich auch für den Vater, der das seinerzeit beim Angeln aussprach, als er mit seinem Sohn am Ufer der Unstrut das Auftauchen eines Karpfens erwartete.
Ein Thema ist angeschlagen und ein Erzählmotiv, denn die Ungewissheit treibt Matthias Jüglers neuen Roman in verschiedenen Varianten voran. Eine Ungewissheit, die in diesem Fall den Menschen an den Rand seiner seelischen und sozialen Möglichkeiten führt, an Abgründe, die kaum jemand kennt. Sie öffneten sich, als Hans mit seiner Frau Katrin im Jahr 1978 einen Sohn empfing, den sie sofort wieder verloren.
Am Morgen nach der Geburt von Daniel wurde dem Paar mitgeteilt, dass das Kind seine ersten Stunden nicht überlebt hätte. Es sei über Nacht auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Das Herz sei zu schwach gewesen. Das Herz eines Kindes, dessen gesundheitliche Werte nach der Geburt völlig in Ordnung gewesen waren.
Aus dem Gleichgewicht
Dass da etwas nicht stimmte, spürte die Mutter sofort. Weder konnten die Eltern das Kind noch einmal sehen, für das Hans eigenhändig das Grab schaufeln wird, noch gab es einen Totenschein. Es gab nur das: das amtliche Schweigen und den persönlichen Schrecken, der sich zwischen den Eltern ausbreitet wie ein offener Brand.
Dass ihr Kind noch lebe, davon ist Katrin überzeugt. Dass sie sich in ihrem Schmerz verrenne, hält Hans dagegen. Das Paar trennt sich nach einem Jahr. „Der Tod eines Neugeborenen gehört zu den Dingen, die am äußersten Rand unserer Vorstellungskraft liegen“, sagt Hans. „Er widerspricht dem natürlichen Ablauf des Lebens auf so ungeheuerliche Weise, dass mich auch heute noch der leiseste Gedanke daran aus dem Gleichgewicht bringen kann.“
Ein ungeheuerliches Ereignis steht somit am Anfang des Romans „Maifliegenzeit“, den der 1984 in Halle geborene und in Leipzig lebende Autor drei Jahre nach dem großen Erfolg seines Romans „Die Verlassenen“ veröffentlicht, 2022 ausgezeichnet mit dem Klopstockpreis für Neue Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. Wie in „Die Verlassenen“, das um einen Stasi-Verrat und dessen Folgen kreist, findet Jügler den faktischen Kern seines Romans wieder in einer zeitgeschichtlichen Recherche: der Praxis von vorgetäuschtem Säuglingstod in der DDR, einer Variante der Zwangsadoption, um gegen den Willen der leiblichen Eltern das Kind an fremde Eltern freizugeben. Drei solcher Verbrechen sind aufgeklärt, die Zahl der Verdachtsfälle liegt bei 2.000, teilt Matthias Jügler in einer Nachbemerkung mit, die auf die „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ hinweist.
„Mich zieht das Wasser an“
Der Roman ist frei von zeitgeschichtlichen Erörterungen. Und frei von Aktivismus. Die Wucht des Geschehens entfaltet sich in leisen Schritten, in einem Drama im Kammerton – in den Handlungen der Betroffenen, die nicht wissen, was ihnen geschieht. In den Reaktionen der Menschen, die es besser zu wissen meinen, was ihnen nicht vorzuwerfen ist. Und in der Landschaft um die Unstrut, in der Hans seinen Fluchtort findet. Und seinen Trost.
Denn statt die Nähe der Menschen sucht Hans die Nähe der Flüsse, nicht Tränen, sondern Gewässer. „Andere haben vielleicht eine Schwäche für Architektur, und es soll Menschen geben, die ganze Tagesreisen in Kauf nehmen, um ihre Lieblingsband zu sehen“, sagt Hans. „Mich zieht das Wasser an. Das ist ein Tick, dessen bin ich mir bewusst.“
Wie umsichtig Matthias Jügler das Ausgangs-Drama seines Romans steuert, wie unaufgeregt er die Folgen dieses ungeheuerlichen Ereignisses und seiner schrittweisen Eskalation schildert, zu der das plötzliche Auftauchen des als tot deklarierten Sohnes gehört, ist nahezu eine Provokation. Langsam und stetig wird der Spannungsbogen gebaut. Das Ungeheuerliche wird kontrastiert: Einerseits mit einem fast altmeisterlich gediegenen Erzählton, andererseits mit den Schilderungen einer Natur, die nicht nur als Kulisse, sondern als Akteur des Geschehens mitwirkt.
Denn immer sind da die Flüsse, zu denen es Hans hinzieht. Und die Fische, die er dort nicht nur angelt, sondern beschreibt, ja feiert. Ist schon einmal zuvor in der deutschen Gegenwartsliteratur so genau und hingebungsvoll über die Schönheit von Karpfen, Barbe oder Aland geschrieben worden? Oder über die Maifliegen, die sich im Titel des Romans finden?
Insekten, die sich um Pfingsten herum aus dem Oberlauf der Unstrut lösen, wo sie im Sediment des Flusses ausgeharrt hatten, um sich plötzlich in wilden Tänzen über das Wasser zu erheben, wo die Bachforellen nach ihnen schnappen. Maifliegen, aufgestiegen aus dem Grund, nur kurzzeitig sichtbar.
Der verborgene Grund
Selbstverständlich schreibt Jügler nicht nur über die Natur, wenn er über Flüsse, Fische und Maifliegen schreibt. Denn, sagt Hans, „nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert.“ Der verborgene Grund des Kindsverlustes findet seine Entsprechung im verborgenen Grund der Flüsse.
Wo das Ungewisse endet, beginnt das Träumen. Am Ende des Romans weiß der Leser, was gemeint ist. Es gibt keine Zukunft ohne Wissen. Wo dieses fehlt, entfalten sich keine Träume, sondern nur Spielarten von Wahn. Zeitlos gestaltet Matthias Jügler ein Thema der Zeit, gespiegelt in der wie selten eindrücklich geschilderten Landschaft der Unstrut.Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Penguin Verlag, 160 Seiten, 22 Euro.