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Verlängerter Sommer in Halle Element of Crime in Halle: Wie das Leben wieder Spaß macht

Sven Regener und Element of Crime verlängern mit ihren wahren Liedern von echten Menschen den Sommer in Halle.

Von MATHIAS SCHULZE Aktualisiert: 04.09.2024, 13:52
Element of Crime in Halle. Nach dem ersten Song sagt Sven Regener (Mitte): „Eins spielen wir noch“.
Element of Crime in Halle. Nach dem ersten Song sagt Sven Regener (Mitte): „Eins spielen wir noch“. (Foto: Steffen Schellhorn)

HALLE/MZ - „Wir haben keine Lösung, wir haben Lieder.“ Als Element of Crime am Sonntagabend gegen 19 Uhr auf der bestuhlten Freilichtbühne Peißnitz in Halle mit dem Song „Unscharf mit Katze“ eröffnen, zeigt sich ein Phänomen, das zuvor das Industrial-Folk-Duo „Hackedepicciotto“ beinah zum Verschwinden brachte: Es ist noch hell, zwischen Eis und Bratwurst liegt noch unverbindlicher Sommer in der Luft.

Schlechte Bedingungen für dunkle und ins Herz rumpelnde Balladen. Ein Abend mit Anlauf.

Die in schwarz gekleidete Band nimmt es sportlich. Man weiß, was kommt. Frontmann Sven Regener, Jahrgang 1961, schüttelt das graumelierte Haar, hält lässig die Trompete und pflegt Attitüden. Nach dem ersten Song vermeldet er kratzig: „Eins spielen wir noch.“ Minimalistische Sätze, der Mythos „Element of Crime“ ist ohne das Mantra vom ewigen Wachstum, ohne das „Höher, schneller, weiter“, ohne die uns umgebenden Normen und Schönheitsideale nicht fühlbar. Ein Siegeszug der Antihelden, eine Feier des ungeschminkten Daseins.

Jammern und Picheln

In den Songs treffen sich Leute wie du und ich, schrullige und eben echte Menschen. Manchmal entstehen Momente der Zärtlichkeit. Und oft „geht am Ende viel daneben / So wie überall im Leben.“ Zeichnen sich die älteren Songs aus den 90er Jahren auch durch eine bedrohliche, nervöse und fiebrige Energie aus, nehmen die jüngere Lieder oft Alltagsbilder als Ausgangspunkt. Das Marmeladenbrot fürs Schulkind, das Fahrrad und die Straßenbahnrillen.

Nichts ist zu gewöhnlich, um nicht wild assoziativ eine kuriose Szenerie nach der nächsten zu entwerfen. Das lustvolle Mäandern als Kunstgriff, im Song „Am Ende denk ich immer nur an dich“ heißt es: „Warum blutet Mutter aus der Nase? / Warum ist ihr Kind so dumm wie klein? / Darf ein metallic-braunes Auto denn da parken? / Und warum kann ich ohne dich nicht glücklich sein?“

Der Zauber funktioniert

Auch wenn es noch hell ist, funktioniert ein Zauber sofort: eine gelöste Entspannung. Es ist, als hätte jemand einen Stecker gezogen. Das ewige Vergleichen entfällt: Hat die nicht die schönere Nase? Der nicht das größere Auto? Warum hat mein Nachbar so viel Erfolg und ich so viele Neurosen? Die Fragen verschwimmen im Wohlgefallen. Element of Crime haben den Soundtrack zum Verglühen, die Lieder zum großen Einverständnis mit den eigenen Macken mitgebracht.

Herrlich träge Melodien, Tanzbares und witzige Elemente inklusive. Im zweiten Song „Am ersten Sonntag nach dem Weltuntergang“ trödeln diese konsumkritischen Zeilen ins Gemüt: „Beim Kauf eines neuen Lebens / Gibt's eine Gratis-Zigarre dazu.“ Man umarmt sich beim „Jammern und Picheln im Gartencafé“ (Kaffee und Karin). Das Leben als eine ewige Wiederkehr des Scheiterns, die Musik als eine verbindende Instanz, die auch dem ungelenken Schunkeln Worte und Weißwein spendiert. Im provinzliebenden „Delmenhorst“ heißt es: „Erst wenn alles scheißegal ist / Macht das Leben wieder Spaß“.

„Vielen Dank“

Und dann diese schöne und schnöde Verweigerung, ein Konzert als einpeitschendes Event zu inszenieren. Hier werden keine komplexreduzierten, überschäumenden Gefühle in den Himmel geschossen. Ein schnoddriges, achselzuckendes „Vielen Dank“ kommentiert den Applaus nach jedem Song. Regener und seine Attitüden – wunderbar, wie sie dem Gesamteindruck dienen.

Langsam wird es dunkel, langsam kommt die größte Magie eines Element of Crime-Konzertes zum Vorschein. Während Vögel über die Peißnitz kreisen, ein Herbst- und Abschiedsgefühl nach der Seele greift, wird die Band in atmosphärisches Licht gehüllt. Rot, blau oder lila. Im Bühnennebel zerrt, kratzt und knarzt Regners Stimme, der Sound ist breit und fett.

All die Blues-Anleihen, all die Trompeten-, Mundharmonika – und Gitarrensoli gehen direkt in den Bauch. Steht Regener beim Klassiker „Weißes Papier“ – ein Trennungssong, der in seiner verzweifelten Hilflosigkeit und Schönheit monatelange Therapiestunden zusammenfassen kann – allein im weißen Licht, öffnen sich Bewusstseinsströme, die begriffliches Denken blamieren. Man gleitet hinein in die Schmerzen – und kann sie ertragen, sogar genießen. Das Leben ist schön. Immer und immer wieder.

Wenn es dunkel wird

In der Dunkelheit bekommt man einen melancholischen Flow, der die Welt vergessen lässt, den man möglichst lange halten möchte. Wie wunderbar dieser Zauber wirkt, offenbart sich vor allem beim letzten Song „Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“. Ein Mitsingen, ein Johlen, ein Publikumschor. Es ist, als würden sich alle aus einem ähnlichen Trance-Zustand heraus friedlich grüßen. Eine sanfte Verbundenheit, ein Einverständnis mit allem Schrägen. Regener scheint diesen besonderen Moment zu spüren. Kurze, aber sensible Abschiedsworte: „Genau so sieht’s aus! Vielen Dank.“