Matthias Domaschk starb mit 23 Jahren in Stasi-HaftVor seiner Zeit
Peter Wensierski recherchiert das Leben und Sterben des jungen DDR-Oppositionellen Matthias Domaschk. In Halle stellt er das Buch vor.

HALLE/MZ - Schon in Halle sollten sie von Transportpolizisten aus dem Zug gerissen werden: Matthias Domaschk (23), genannt Matz, und Peter Rösch (29), genannt Blase. Langhaarig der eine, rasta-haft gelocktes Haar der andere. Zwei Jugendliche aus Jena, die am 10. April 1981 zu einer Geburtstagsfeier nach Berlin fuhren. Zu diesem Zeitpunkt eine Stadt im Ausnahmezustand: Die SED richtete ihren zehnten Parteitag aus und alle „feindlich-negativen Kräfte“ waren fernzuhalten.
Der „Zugriff“ erfolgte dann doch nicht in Halle, weil der Zug über Weißenfels und Leipzig fuhr. In Jüterbog erfolgte der Einsatz: In Handschellen wurden Matthias Domaschk und Peter Rösch erst ins Bahnhofsrevier gebracht, am Tag darauf dem Stasi-Untersuchungsgefängnis Gera zugeführt.
Was sich in den folgenden zwei Tagen ereignete, ist ein von staatlicher Willkür getriebener Krimi. Die Stasi-Offiziere drückten einander die Klinke in die Hand. Stundenlang wurden die Jugendlichen verhört, die zur oppositionellen Szene in Jena gehörten.
Nicht allein die Kontakte in Jena kamen auf den Tisch. Auch jene, die nach Halle-Neustadt zum Kreis um den Jugenddiakon Lothar Rochau und nach Saalfeld zum Kreisjugendpfarrer Walter Schilling führten sowie hin zur Opposition in Danzig und Prag.
Am Ende wurde Matthias Domaschk, haltlos erschöpft, offenbar zu einer IM-Verpflichtung genötigt. Am 12. April 1981 fand man ihn erhängt in der Besucherzelle, in der er auf seine Entlassung warten sollte. Ein Tod mit 23 Jahren. Ein Tod vor seiner Zeit. Und vor der Zeitenwende von 1989.
Der Tod des Matthias Domaschk gehört zu den prominenten Fällen von politisch-polizeilicher Gewalt in der DDR. Dabei ist es unerheblich, dass es keine letzte Gewissheit über die Todesumstände gibt. Nicht wie, sondern dass Matthias Domaschk in der Haft gestorben ist, ist der Skandal. So sagt es die Bürgerrechtlerin Dorothea Fischer: „Das Einzige, was immer entscheidend war, war der Ort, und dass er zu diesem Ort nicht freiwillig gegangen ist.“
Wie Matthias Domaschk 1981 – nicht zum ersten Mal – in die Fänge der Stasi geriet, was er dort erlebte und zuvor erlebt hatte, das hat Peter Wensierski recherchiert. 60.000 Akten-Seiten hat der ehemalige ARD-„Kontraste“- und „Spiegel“-Redakteur gelesen. Mit mehr als 160 Menschen, die Domaschk kannten, gesprochen, zudem mit 30 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. Eine XXL-Recherche, deren Ergebnis unter dem Titel „Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk“ vorliegt – ein erzählendes Sachbuch, das Wensierski in Halle vorstellt: am 20. September im Literaturhaus und am 16. November in der Gedenkstätte Roter Ochse.
Was dokumentarische Prosa leisten kann, ist hier zu sehen. Mit nur geringen fiktionalisierenden Zutaten schafft Wensierski einen faktenfesten, dabei gut lesbaren Text, der nicht allein das Haft-Geschehen rekonstruiert, sondern auch das oppositionelle Milieu um Matthias Domaschk schildert: Junge Menschen, die voller Lust und Fantasie in ein selbstbestimmtes ziviles Leben, aber nicht in die Strukturen der SED-Herrschaft drängten. Menschen, die wie Matthias Domaschk die Doors und Rio Reiser hörten, die Jack Kerouac und Reiner Kunze lasen.
Peter Wensierski schildert in zeitlicher Folge die letzten drei Tage des Matthias Domaschk und in Rückblicken dessen Leben und Entscheidungen. Gezeigt wird ein schöngeistiger, sozial einfühlsamer Mensch, den es aus der angepassten Mittelschicht heraus zu einem freiheitlich politischen und künstlerischen Engagement trieb. Ein Jugendlicher, der etwas vorhatte. Der 1978 Verse schrieb wie: „nach liebe fragen kann ich nicht / nach schönheit fragen will ich nicht / aber nach unserem leben / denn es ist liebe und schönheit“.
Weil er 1976 den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieb, wurde Matthias Domaschk kurz vor dem Abitur von der Schule entfernt – jedes Recht auf Bildung wurde ihm verwehrt. Dieser Bruch stärkte den Entschluss, die DDR-Verhältnisse nicht hinzunehmen.
Wensierski zeigt am Beispiel Jena, wie brutal der SED-Staat Fälle von politischer Romantik als terroristische Aktionen verfolgte. Wie mit Schlagstöcken bereits gegen harmlose Geselligkeiten vorgegangen wurde. In Zeiten einer neuerlich sturz-naiven, unbedarft redseligen, oft von den Rändern der alten Ost-Eliten aus verfassten DDR-Verklärungsprosa wirkt Wensierskis klares Buch wie der Blick eines Basilisken – etwas, das versteinern lassen kann.
Es ist Peter Wensierski vorgeworfen worden, dass er, um das Erzählen voranzutreiben, an einigen Stellen Gedankengänge der Protagonisten erfindet. Tatsächlich wäre eine durchweg rein dokumentarisch distanzierte Erzählhaltung effektvoller gewesen.
Und nicht weniger eindringlich, wie diese Szene um den toten Matthias Domaschk zeigt: „Als nach etwa einer halben Stunde der herbeigerufene Arzt Dr. Hagner eintrifft, hält er Domaschk einen Spiegel vor Nase und Mund. Der beschlägt etwas“, und der Wachhabende „Schaller schaut den Doktor erwartungsvoll an. Doch dieser winkt ab: Es ist euer Atem, nicht mehr seiner“.
Peter Wensierski stellt sein Buch im Gespräch mit Ellen Schweda (MDR) am 20. September um 19 Uhr im Literaturhaus Halle vor. Und am 16. November um 20.30 Uhr in der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle. Peter Wensierski: Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk. Ch. Links Verlag, 368 Seiten, mit Abbildungen, 25 Euro.