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Klaus Maria Brandauer am Anhaltischen Theater in Dessau Verweile doch!

Klaus Maria Brandauer und der Pianist Sebastian Knauer begeistern in Dessau mit ihrem Prometheus-Programm.

Von Christian Eger 06.03.2023, 17:26
Schauspieler Klaus Maria Brandauer in Dessau
Schauspieler Klaus Maria Brandauer in Dessau (Foto: Sebastian Gündel)

DESSAU-ROSSLAU/MZ - Knallvolles Haus. Oben und unten. Rang und Parkett bis auf den Platz gefüllt. Aufstehen, Setzen, Aufstehen. Klipp, klapp füllen sich die Reihen im Sekundentakt. Unübersehbar: Dieser Sonnabend ist ein guter Tag für das Anhaltische Theater. Für das Theater überhaupt.

Kurz nach sechs auf der Bühne: zwei Männer von links. Zügiges Hineinschreiten. Der Pianist Sebastian Knauer nimmt Platz am Flügel vorne links, hinter dem der zweite Mann nach rechts vorbeiläuft ins Licht. Dunkelgrauer Anzug, schwarzes Poloshirt, Goldrandbrille, Viertagebart. So steht er hinter dem Tisch, auf den er seine Hände stützt, um dem starken Applaus mit einem kurzen Kopfnicken zu antworten. Klaus Maria Brandauer, der Filmstar aus Wien, der Mephisto war. Brandauer, der Burgschauspieler, ein leibhaftiges Weltkulturerbe.

Setzt sich an einen hellen Holztisch, schlägt die auf zwei Bücher gelegte Textmappe auf: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“ Brandauer liest die „Zueignung“ von Goethes „Faust“. Und keiner muss sich ein „Verweile doch!“ wünschen, denn er ist ja dabei.

Prometheus am Piano

Brandauer liest. Tänzelnd, spielend, beiläufig, fast im Selbstgespräch. Keine Deklamation. Kein Pathos-Stakkato. Sondern ein neuer im altvertrauten Text. Kleine Sprünge, Auslassungen, leichter Unterschliff. Wie interessant. Egal, was noch passiert: Was kann besseres geschehen als ein Treffen von Goethe und Brandauer? Von Faust und Mephisto?

„Faust – Ein gefesselter Prometheus“ heißt das literarisch-musikalische Programm, mit dem der 79-Jährige das Kurt-Weill-Fest überrascht. Warum? Brandauers Pianist Sebastian Knauer ist der Artist in Residence des laufenden Festivals. Und Brandauer und Knauer sind ein seit Jahren eingespieltes Team. Spricht Brandauer, sitzt Knauer kerzengerade vor der Tastatur. Spielt Knauer, ist Brandauer beim Zuhören zu beobachten, was mindestens so interessant ist wie sein Vortrag. Wie der Schauspieler sich sichtbar sammelt. Hört, sieht. Ganz fokussiert. Ganz in der Situation.

Prometheus in Dessau, das ist eine vielgarnig gewebte Text-Collage. Bei der zwar nicht immer sofort klar ist, welcher Autor gerade redet. Was da aber zum Vortrag gelangt, liegt offen: eine Feier und Kritik des an der Faust-Gestalt vorgeführten Prometheus-Themas – der Mensch, der sich selbst zum Weltenschöpfer erhebt und dabei die Welt in Brand setzt.

Brandauer liest Goethe, mit dessen berühmtem „Prometheus“-Gedicht 1773 alles losging, aber nicht nur. Mit von der Partie sind Texte von Heine, Byron, Marx, Thomas Mann und Enzensberger. Großartig, wenn Brandauer im Vortrag aufdrehen kann, das Publikum stets im Blick. Bei der Schimpfwortkanonade aus der Goetheschen Hanswurstiade etwa. Das gurrt und ätzt: „Saufaus! Vollzapf! Schlüffel! Hosenscheißer! Leckarsch!“ Konkrete Poesie.

Von Weimar nach Hiroshima

Dann kehrt er wieder ein in den Text. Brandauer liest „Prometheus“ („Bedecke deinen Himmel, Zeus“): sachlich entschieden wie ein Einspruch vor Gericht. Er liest „Erlkönig“: mit dünner Stimme den mörderischen Dämon, mit tiefer Stimme den Vater. Dann der Osterspaziergang: „Vom Eise befreit“, Zeile für Zeile ein Preisen, um verstörend lautstark zu schließen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“ Denn: Um welchen Preis? Pause. Stille. Musik!

Sebastian Knauer spielt Bach: eine dynamische Variation der Choralbearbeitung „Wohl mir dass ich Jesum habe“. Ein Auf und Ab wie ein Wellenspiel. Klar, vital, festlich. Mehr Springlebendigkeit geht nicht. Noch drei Mal wird Knauer am Flügel zum Zuge kommen. Brandauer lauscht hin, dann geht es weiter. Die „prometheischen“ Katastrophen nach Faust, der „Fortschritt“ nach Goethe: Weltkriege, Todesindustrie. Das Publikum ist ganz Ohr. Brandauer liest den Bericht eines Mädchens, das den Atombombenwurf auf Hiroshima überlebte.

Nichts Gutes? Außer man tut es

Knauer und Brandauer, 70 Minuten ohne Pause. Goethe am Anfang und Ende. Brandauer liest Fausts Monolog: „Habe nun, ach! Philosophie...“ Die letzte Zeile des Abends ist ein Ruf des Künstlers in die Nacht: „Wo fass ich dich, unendliche Natur?“ Licht aus.

Standing Ovations. Getrampel. Knauer und Brandauer stehen vorn am Bühnenrand. Der Schauspieler ruft den Kästner-Slogan in den Saal: „Es gibt nichts Gutes…“. Das Publikum antwortet: „Außer man tut es“. Brandauer geht in die Knie, beugt sich herab zu einer Frau im Rollstuhl, der er seine gerade empfangenen Rosen überreicht. Wenn hier noch etwas zu wünschen wäre, dann das: dieses Prometheus-Duo einmal im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt.

Das Weill-Programm im Internet: www.kurt-weill-fest.de