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Ulbricht-Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk Maske und Macht

Den zweiten Band seiner monumentalen Biografie über Walter Ulbricht stellt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk gemeinsam mit Wolf Biermann auf der Leipziger Buchmesse vor.

Von Christian Eger 24.03.2024, 17:39
Blick aus der Menge: DDR-Staatschef Walter Ulbricht 1961 in Rostock
Blick aus der Menge: DDR-Staatschef Walter Ulbricht 1961 in Rostock (Foto: Imago)

Leipzig/MZ. - Das hat es seit einem halben Jahrhundert nicht gegeben: eine massenwirksame Veranstaltung in Sachen Walter Ulbricht – mitten in Leipzig, wo der einflussreichste Kommunist der deutschen Geschichte 1893 in der Gottsched-Straße geboren wurde. In einer Stadt, über die sich das Gerücht hält, dass sie einmal in Walter-Ulbricht-Stadt umbenannt werden sollte – so wie 1961 die brandenburgische Stadt Guben in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben.

Es kam anders. Und die Menschen kamen in Scharen am Sonnabendabend ins Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, wo der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den zweiten und abschließenden Teil seiner monumentalen Ulbricht-Biografie vorstellte, begleitet von dem Liedermacher Wolf Biermann, der mit Ulbricht nicht nur die kommunistische Herkunft teilt, sondern auch die öffentliche Wirkung.

Bis zum Alten Rathaus erstreckte sich die Besucherschlange, die den 87-jährigen Künstler bereits mit Applaus vor der Haustür begrüßte. Biermann, im kamelbraunen Kurzmantel, ging auf die Menschen zu, redete mit ihnen, über den Terroranschlag in Russland in diesem Fall, und dass man rausfinden werde, wer da zum Einsatz kam. 19 Uhr wurden die Besucher eingelassen, so viel wie der Saal fasste. Kaum, dass der gefüllt war, wuchs eine Menschenschlange nach, die größer war als die erste.

Deutsche „Staatskunst“

„Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator“ heißt das ziegelsteingroße Werk, das Kowalczuk dem Band „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ (2023) folgen lässt. 956 Seiten im Dünndruck, die die Jahre von 1945 bis zu Ulbrichts Tod 1973 fassen, in denen der gelernte Möbeltischler von 1950 bis 1970 die DDR führte. Sechs große, gut lesbare Kapitel, unterteilt in kleine, fast feuilletonistische Abschnitte. Eine wissenschaftliche Biografie mit populärem Anspruch – und umgekehrt.

Das Buch ist randvoll von interessanten, oft investigativ ermittelten Fakten, die zwei Dinge zeigen: In der SED-Elite waren nicht alle Gestalten grau, sondern sie hatten ihr jeweils eigenes Profil. Und Ulbrichts Profil war eines der auffälligsten: Einer, der mit Eigensinn und großem Fleiß zu Werke ging. So sehr, dass ihm 1973 der DDR-Schriftsteller Peter Hacks, den Kowalczuk in seinem Buch als „kommunistischen Wirrkopf“ bezeichnet, tief erschüttert notierte: „Ulbricht leider ist tot und Schluss mit der Staatskunst in Deutschland“.

2.000 Seiten: Ist das nicht zuviel?

Dass Ulbricht ein Mann vieler Künste war, darunter der obsessiv betriebenen Stadtgestaltung, wird schnell klar an diesem Abend. Aber ist das insgesamt 2.000 Seiten wert? Was er gedacht habe, wird Biermann gefragt, als er hörte, dass sein Freund Kowalczuk eine Ulbricht-Biografie schreibe.

„Ich habe gar nichts gedacht!“, erwidert der. Klar, habe er sich auch gefürchtet. So viel Weltliteratur sei von ihm noch ungelesen – und dann das: So ein Materialaufwand für „den Idioten Ulbricht“, den er eine „Pfeife“ nennt. Aber Biermann kriegt die Kurve.

Denn „tief enttäuscht“ sei er nach der Lektüre. Aber deshalb, weil sie ihm die Augen geöffnet habe. Weil ihm schmerzhaft klar geworden sei, dass Kowalczuk ihm hier sein kommunistisches Herkunftsmilieu erklärt. Dass die nächsten Menschen, die ihn in seiner Geburtsstadt Hamburg umgaben, genauso dachten und genauso handelten wie der Berufsrevolutionär aus Leipzig. Ein Umstand, der es ihm, Biermann, ja so schwer gemacht habe, sich aus seinem Kinderkommunismus zu lösen.

War Ulbricht ein Zuhälter?

Dass er schon das Stöhnen der Leser höre, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk. Aber er wisse, was noch schwerer sei, als 2.000 Seiten zu lesen – diese zu schreiben. Ihm sei es wichtig, hinter die Ulbricht-Schablonen zu blicken – die der Witzfigur, des Vollstreckers, des Unsympathen. Aber: „Eine Biografie bleibt ein Rätsel.“ Er wisse nicht, was Ulbricht fühlte, wirklich dachte. Was ist Maske? Was ist Fakt? Er notiere hier, aber „erfinde“ nichts.

Ihn verblüffe das Phänomen, dass die in der Sowjetunion hingerichteten deutschen Kommunisten als die „besseren“ Kommunisten gelten. Da wirke zweierlei Maß. Tatsächlich sei immer viel Zufall am Werke gewesen, sagt der 56-Jährige. Falls Ulbricht im Ersten Weltkrieg gefallen oder unter Stalin ermordet worden wäre, sähe dessen Nachruhm anders aus.

Es ist ein sachlich etwas sehr sprunghafter, aber pointenreicher Abend, ein launiges Hin und Her zwischen Ulbricht-Folklore und -Analyse. War Ulbricht anfangs auch ein Zuhälter, ein Bordellbetreiber, wie behauptet wurde? „Alles Quatsch“, sagt Kowalczuk. Wie die meisten Ulbricht-Schmähungen stammen sie von nach 1945 in den Westen geflohenen „Renegaten“. War es Ulbricht, der den Abriss der Paulinerkirche in Leipzig befahl? Das sei komplizierter, sagt Kowalczuk. Fest stehe aber, dass „insgesamt 65 Kirchengebäude in der DDR abgerissen wurden, darunter allein in Magdeburg fünf“.

Da fällt das Buch vom Tisch

Der Hauptfehler der Kommunisten sei ihr Beharren auf einer „einzig wahren wissenschaftlichen Weltanschauung“ gewesen, sagt Kowalczuk, denn damit seien sie „nicht koalitionsfähig“ gewesen. Eine Ist-So-Ideologie, die jede Kritik auflaufen lässt. Heute würde man vom „Schwurbeln“ reden. Indes seien die deutschen Kommunisten nicht mit dem Ziel angetreten, eine Diktatur zu errichten. Die sei nur als Übergang gedacht gewesen, was aber von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Sie saßen geistig in einem „Gefängnis“.

Wolf Biermann liefert viele Anekdoten. Es bleibt dabei: Seine Geschichten sind noch immer die besten. Etwa von seinen Begegnungen mit Margot Honecker, die ihr Büro genau dort hatte, links vom Berliner Hotel Adlon, wo heute Angela Merkel das ihre betreibt. „Das passt doch!“, meint Biermann. „Meinst du?“, erwidert Kowalczuk. Er sähe das ja nicht so. Plötzlich fällt das Buch mit großem Rumms vom Tisch. Biermann schlagfertig: „Das ist der Sturz Ulbrichts!“

Der Sänger widmet dem Biografen ein neues Lied. „Späte Ermutigung“ heißt es und beginnt: „Die finsteren Zeiten gehen vorbei“. Es schließt mit der Pointe, dass auch die Ewigkeiten enden – und einem lange gesungenen, von Biermann auf der Leipziger Bühne wie endlos ausgehaltenen Ton. Dass Ilko-Sascha Kowalczuk den längeren Atem behalte möge, sagt Biermann, das wünsche er ihm. Die längeren Bücher hat er schon.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator. C. H. Beck, 956 S., mit Abb., 58 Euro