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Gleimhaus in Halberstadt zeigt Ausstellung zur Dichterin Anna Luisa Karsch Eine freie Frau

Vom Cowgirl zur Liedermacherin Preußens: Mit einer Ausstellung feiert das Gleimhaus in Halberstadt den 300. Geburtstag von Anna Luisa Karsch.

Von Christian Eger Aktualisiert: 01.12.2022, 12:25
Die  Hände von Deutschlands erste Berufsschriftstellerin: Anna Louisa Karsch,  1791 gemalt von Karl Christian Kehrer (Detail)
Die Hände von Deutschlands erste Berufsschriftstellerin: Anna Louisa Karsch, 1791 gemalt von Karl Christian Kehrer (Detail) (Foto: Gleimhaus Halberstadt)

HALBERSTADT/MZ - In vielem war sie die Erste, in manchem die Einzige, durchweg eine Einzigartige: Anna Louisa Karsch (1722-1791), genannt die Karschin, eine schlesische Landgastwirtstochter, die es vom Armeleutekind zur etablierten preußisch-hauptstädtischen Schriftstellerin brachte. Am Ende eine Frau mit Ruhm und Geld und Hausbesitz in Berlin – und das alles aus eigener Kraft.

Am ersten Dezember vor 300 Jahren wurde sie geboren: die erste deutsche Berufsschriftstellerin (vor Sophie La Roche). Die angeblich erste Frau, deren Ehe in Preußen geschieden wurde: 1745. Die erste und einzige Autorin, der Friedrich II. – der deutschsprachige Schriftsteller als minderwertig ignorierte – eine Audienz gewährte. Und der erste schriftstellernde Mensch überhaupt, dem in Deutschland ein ganzfigürliches Denkmal in Stein gehauen wurde. Und das war 1784 ein Denkmal für eine Frau.

„Plötzlich Poetin!?“

Diese Skulptur stand bis um das Jahr 1900 im Landschaftsgarten Spiegelsberge, seitdem im Gleimhaus Halberstadt, seit 2008 mit korrekt ersetztem Kopf. Der Ort ist kein Zufall: Es war der über Preußen hinaus bestens vernetzte Halberstädter Schriftsteller und Literaturbetriebler Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), der in der „natürlichen“ Stegreifdichterin eine Wiedergeburt der antiken Dichterin Sappho sah.

Dass die Karschin mehr als eine freundschaftliche Neigung zu ihrem Förderer empfand, dem sie 1762 ihre „Sapphischen Lieder“ widmete, ist zu unterstellen. Gleim jedenfalls sammelte alles, was von dieser Autorin zu erhalten war: Gedichtmanuskripte, Briefe, Bücher. Bevor das Haus Gleims das öffentliche Literaturmuseum wurde, war es bereits ein privates Karschin-Museum.

Ein einzigartiger Schatz an Quellen, der jetzt in einer Fülle ausgebreitet wird, wie es zuvor nie der Fall war. „Plötzlich Poetin!?“ heißt die von der Gleimhaus-Direktorin Ute Pott kuratierte Schau. Das Ausrufezeichen verweist auf den Ruhm, den die Ankunft des vermeintlichen Naturgenies 1761 in Berlin ausgelöst hatte. Hingegen das Fragezeichen markiert das öffentliche Infragestellen ihrer dichterischen Leistung und Präsenz. Aber die Karschin war nie ganz vergessen, immer gab es eine posthume Fürsorge – unter anderem 1981 angestoßen von Gerhard Wolf mit dem im „Märkischen Dichtergarten“ in Ost und West veröffentlichten Auswahlband „O, mir entwischt nicht, was die Menschen fühlen“.

Kirschen und Kastanien

Die inhaltlich stets sinnfälligen, metrisch an Kirchenliedern geschulten Liebes-, Land- und Leute-Gedichte der Mutter einer kleinen Dichterinnen-Dynastie boten laut Wolf: den Geschmack schwarzer Kirschen, die Abenteuer einer frostklirrenden Winternacht, die Schönheit der Kastanienbäume in Berlin. Verse, die – was in den Salons des Berliner Adels bestens unterhielt – von der Karschin aus dem Stand gereimt und vorgetragen wurden. Ein Spoken-Poetry-Ereignis.

Aus der ständigen Gleim-Ausstellung heraus nimmt die Karschin-Schau ihren Lauf. Kindheit, Jugend, die Ehejahre. In brombeerrotes Tuch gehüllt sind die Sockel der Vitrinen, die sich der Autorin widmen. Wie sich die Lyrik der Karschin gleichermaßen aus Gesang und Lektüre entwickelt, wird gezeigt. An den Stationen liegen Bücher bereit, die sie gelesen hat: Defoe und die Nibelungen, dann Gellert und Haller.

Der Aufstieg von der Provinz in die Metropole, von der Unsichtbarkeit in den Ruhm, vollzieht sich im Gleimhaus buchstäblich: über die Treppenstufen ins Obergeschoss, hinauf zum Gleimschen Freundschaftstempel mit seinen Gelehrtengemälden. Hier ist der Gast ganz Ohr: Wie die Karschin in Berlin vorfuhr und vom Adel eingekleidet wurde, ist zu hören.

Archiv der Tränen

Im Fortgang ist das Schreiben und Wirken der Dichterin zu erleben. Großartig die „Tränen-Objekte“ – Briefe, bei deren Verfassen die von inneren und äußeren Nöten geplagte Karschin auf ihre Tintenschrift weinte: runde, heute auf dem Papier leicht eingedunkelte Flecken. Alle 2.000 Karschin-Papiere habe man auf Tränen geprüft, sagt Ute Pott, sechs gefunden. Darunter ein Brief von 1761, in dem die Dichterin gegenüber Gleim von ihren Tränen als „Kinder meiner Liebe“ spricht, „die mein Herz unterdrücken musste“. Das ist die Karschin, sagt Ute Pott: „Sie ist immer in der Performance, aber gleichzeitig sagt sie: Ich bin immer wahr.“

Der Tisch zum Geburtstag ist reich gedeckt: Es gibt den von Ute Pott bei Wallstein herausgegebenen Katalog zur Schau, die von der Gleimhaus-Chefin gemeinsam mit Claudia Brandt ebenfalls neu herausgegebenen „Briefe und Gedichte“ und einen von der sachsen-anhaltischen Klopstockpreisträgerin Annett Gröschner als Frankfurter Buntbuch (Verlag für Berlin-Brandenburg) verfassten Essay: „,Die Spazier-Gaenge von Berlin’. Anna Louise Karsch (1722-1791)“. „Vom schlesischen Cowgirl zur Liedermacherin Preußens“ ist Annett Gröschners Karschin-Formel.

Inmitten der Gleimschen Freundschaftsgalerie ist das Karschin-Porträt von 1791 zu sehen, dem Jahr ihres Todes. Ute Pott liebt dieses Bild: gerader Rücken, Schreibfeder in der Hand, zufrieden und selbstbewusst. Eine freie Frau: als Autorin, Familienchefin, Berliner Bürgerin. Als Souvenir zur Schau wird ein Brillenputztuch angeboten mit dem Aufdruck eines Tränenbriefes. Nach Gebrauch ist festzustellen: Mit der Karschin sieht man besser.

Eröffnung der Ausstellung: 1. Dezember 19.30 Uhr mit Ines Lacroix als Karschin, mit Annett Gröschner und Ute Pott, Claudia Oltzscher und Uwe Schlottermüller (Musik). Die Ausstellung läuft bis 30. April 2023, Di-So 10-16 Uhr. Begleitprogramm: www.gleimhaus.de