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Martin Beckers Roman „Die Arbeiter“ Der lange Abschied

Der in Halle lebende Autor Martin Becker schreibt über ein deutsches Milieu, das es nicht mehr gibt, das aber viele Menschen auch hierzulande noch erinnern werden: „Die Arbeiter“.

Von Andreas Montag 18.03.2024, 11:54
Martin Becker, Jahrgang 1982, ist ein genauer, empathischer Chronist der „kleinen Leute“.
Martin Becker, Jahrgang 1982, ist ein genauer, empathischer Chronist der „kleinen Leute“. (Foto: Cathrin Cruz)

Eist vor allem ein zärtliches Buch. Klar und direkt und manchmal fast schockierend in seiner Offenheit. In poetischer, schöner Sprache. Und den Menschen, die Martin Becker so gut wie niemand sonst kennt, zugewandt. Im Schmerz, in der Trauer. Um Distanz bemüht, ohne sich zu distanzieren. Doch, zärtlich ist das passende Wort für dieses Denkmal einer Familie, die aus dem Ruhrpott nach Plettenberg im Sauerland übersiedelt war, von Nordrhein-Westfalen nach Nordrhein-Westfalen. In Plettenberg ist der 1982 geborene Martin Becker aufgewachsen.

Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Familie in Halle, im Zentrum einer Region, die über Jahrzehnte von Bergbau, Chemieindustrie und Energieerzeugung bestimmt war. Die Milieus der Menschen, hier wie dort, sind einander so unähnlich nicht gewesen – ungeachtet der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in der alten Bundesrepublik und der DDR.

Prekäre Verhältnisse

Martin Beckers Roman „Die Arbeiter“ handelt von kleinen Leuten, die in Plettenberg arbeiteten, wohnten und gestorben sind. „Kleine Leute“ ist eine übliche, etwas verklärende Metapher für Menschen, die oft in prekären sozialen Verhältnissen leben. Der Autor nennt die Dinge lieber beim Namen, nennt auch Zahlen: „Gehörten 1970 in Westdeutschland noch 47,3 Prozent der Erwerbstätigen zur Arbeiterklasse, so gab es im Jahr 2021 nur noch 12.3 Prozent malochende Lohnempfänger.“ Und damit ist auch das Milieu der Arbeiter im Verschwinden begriffen, deren Alltag von Schuften in Schichten und dem Versuch geprägt war, für ihre Lieben und sich selbst aus dem hart Verdienten ein kleines Glück zu bauen. Wobei es, wie in der Familie, deren Schicksal Becker nachgeht, meistens vorn und hinten nicht reicht, um die Träume aus den Versandhauskatalogen auch zu bezahlen.

„Ich will das alles nicht zurückhaben“, schreibt er: „Nicht die Scham, nicht die Wut, nicht die endlos verqualmten Abende im Wohnzimmer mit Privatfernsehsendungen.“

Martin Becker schaut genau hin, wägt die Worte, wägt die Menschen, von denen er berichtet. Da ist der Vater, der erst Bergmann und später Schmied war. Ein schweigsamer, manchmal zorniger Mann. Die Mutter, die sich als sehr junge Frau zu ihm hingezogen fühlte. Er gerade 21, sie erst 15, als sie zusammenkamen. Auch, weil sie heraus wollte aus ihren Verhältnissen, die nicht gut waren.

Sie verlieben sich, sie sind glücklich, bis das Alltägliche, die Routinen der Arbeit, der Erhalt der größer gewordenen Familie sie immer mehr auslaugen. Ewig die Sorge wegen des Geldes, das vorn und hinten nicht reicht. Der Kredit für das Reihenhäuschen drückt. Die Raten werden am Ende, nachdem der Vater gestorben ist, noch immer nicht vollständig abbezahlt sein.

Vier Kinder gehören zur Familie, zwei Mädchen, zwei Jungen. Nur zwei sind noch da zum Zeitpunkt des Erzählens. Lisbeth, die Älteste, ist gestorben wie die Eltern. Lisbeth, das adoptierte Sorgenkind, von dessen Behinderung man den Eltern nichts gesagt hat, bevor sie es zu sich holten. Und dann hätten sie es zurückgeben können, wie einen Fehlkauf. Aber das taten sie nicht. Zogen das Mädchen, das lebenslang auf Hilfe angewiesen war, mit aller Hingabe auf, rackerten sich für Lisbeth wie für die anderen drei Kinder ab, die sie noch bekamen.

Aber dicke Luft hat es oft gegeben. Uta, die zweite Schwester des Erzählers, ist beizeiten aus dem Haus gegangen. Und er selbst, der Jüngste, hat sich die Freiheit, die er sich ertrotzte, genommen und seinen Weg aus der Enge gesucht. Nein, er will nichts wiederhaben – das Aufeinanderhocken nicht, auch die dampfenden Grillrituale mit viel zu viel fettem Fleisch, die Biere und Schnäpse im Übermaß nicht. Die Selbstgedrehten, das preiswerte Glück. Aber Becker verrät die Menschen, von den er schreibt, nicht. Er stellt sie nicht bloß. Er schildert ihre Lage. Nüchtern. Ein langer Abschied. Und manchmal mit einem dicken Kloß im Hals.

Eine Woche an die Nordsee

So kann es einem beim Lesen selbst gehen. Wenn der Autor schildert, wie die Eltern sich krumm machen, wie sie sich einen kleinen, nur eine Woche währenden Urlaub an der Nordsee absparen, wie der Vater schließlich um das Leben seiner schwer erkrankten, dann pflegebedürftigen Frau kämpft – und wie er, selbst schon erschöpft und krank, dem Jüngsten noch ein bisschen Freundlichkeit schenkt: Mehr, als man dem knorrigen Burschen zutrauen mag.

Dieses Leben, dieses Herkommen ist keines, um das man einen beneiden würde. Und doch ist es ein unveräußerlicher Schatz. Einer, der das Leben so kostbar erscheinen lässt, wie es ist. Die Eltern sind gestorben, die Lottofee blieb weg, wie Martin Becker lakonisch schreibt: „Das waren wir. Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte.“

Ein schönes, wahrhaftiges Buch. Traurig und heiter, befreiend noch im Schmerz. Und zärtlich, wie gesagt.

Martin Becker: Die Arbeiter. Luchterhand, 304 Seiten, 22 Euro