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35 Jahre Mauerfall Das Tor geht auf

Vor 35 Jahren fiel die Mauer. Der Weg in die Freiheit war auch von Illusionen getrieben. Aber ohne Träume gibt es keinen Aufbruch.

Von Christian Eger 08.11.2024, 17:22
Brandenburger Tor am 9. November 1989: Power auf der Mauer
Brandenburger Tor am 9. November 1989: Power auf der Mauer (Foto: dpa)

Fünf Jahre fällt die Mauer. Sie fällt und fällt: im Fernsehen, in der Presse, auf Gedenkveranstaltungen. Dabei war die Mauer im Wortsinn gar nicht „gefallen“, das tat sie ja erst danach. Am 9. November 1989 öffneten sich die Tore. Zuerst in der Mauer, die Ost-Berlin umschloss, dann in den Grenzzäunen, die den Osten über 1.400 Kilometer Länge vom Westen trennten.

35 Jahre ist das her. 35 Jahre! Das sind fast zwei Generationen. Was heißt, es leben heute fast zwei im Osten geborene Generationen, denen dieser Tag kein Tag der lebendigen Erinnerung ist. Und jene, die an dem November-Donnerstag 1989 junge Erwachsene waren, gehen inzwischen auf die 60 zu.

Das Lebensereignis, das der Mauerfall für alle Ostdeutschen war, wird inzwischen selbst historisch. Mit den Erlebnisgenerationen zieht sich die Erinnerung aus der tonangebenden Öffentlichkeit zurück. Stiller wird das Gedenken und persönlicher. Noch fünf Jahre, dann liegt das Ereignis so viele Jahre zurück, wie die DDR existierte.

Das hat Folgen. Immer kleiner gerät die Erinnerung an die DDR. Wenn sie denn überhaupt noch konkret in den Blick gerät. Damit auch der Blick auf den Mauerfall: 54 Prozent der Westdeutschen, zeigt eine Forsa-Umfrage, begreift den Mauerfall als den „glücklichsten Tag der deutschen Geschichte“. Aber nur 50 Prozent der Ostler.

Mit der Mauer fiel auch die DDR. Nicht der 3. Oktober 1990, sondern der 9. November 1989 besiegelte das Ende der DDR. Von diesem Tag an war deren Verschwinden nur eine Frage der Zeit.

Vier Millionen gingen

Aber die seitdem vergangene Zeit ist ein Faktor, der auch die Erinnerung verändert. Niemand, der 1989 erlebte, ist noch der, der er 1989 war. Andere Ereignisse haben sich nach vorne geschoben. Stärkere Erinnerungen. Innergesellschaftlich ist der 9. Oktober 1989, der Tag, an dem die Opposition – auch in Halle und keinesfalls nur in Leipzig – auf die Straßen drängte, der interessantere Termin. Umstrittener, konfliktreicher. Geschichte, die noch raucht.

Am Mauerfall raucht gar nichts. Der feuerwerkt vor allem. Der Tag zeigt sich glasklar. Klar war endgültig das: das Verschwinden der Diktatur. Die Chance, das eigene Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Nicht nur die politische, auch die persönliche Geschichte war – wie das Tor – plötzlich offen.

Freilich ging mit der Freiheit die Überforderung einher. Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Abwanderung. Umstände, die heute den Mauerfall überzeichnen. Es gibt auch eine demografische Erschöpfung der Erinnerung.

Aber nahezu nie wird darüber geredet, dass nach dem Mauerfall rund vier Millionen DDR-Bürger von Ost nach West auswanderten. Es waren vor allem die Jüngeren. Menschen, die heute fehlen. Von seiner Einwohnerzahl her ist Ostdeutschland – ohne Berlin – heute kleiner als Bayern. Die viel beklagte Überalterung ist auch hausgemacht. Im Westen, den sie mit voranbrachten, gründeten die jungen Ostler gute Existenzen. Freilich ohne bis heute selbst gesellschaftlich herausragend sichtbar zu werden.

Plötzlich „Ostdeutsche“

„Die DDR-Bürger gingen in den Westen in der Annahme, sie würden Deutsche werden, stattdessen wurden sie Ostdeutsche“, schrieb dieser Tage der Schriftsteller Marcus Jauer. Auch und gerade nach 35 Jahren: Die Nicht-Repräsentanz der Ostler in den – auch ostdeutschen – Spitzenposten von Staat und Gesellschaft bleibt ein Skandal. Auch das trägt zu einer Privatisierung der Ost-Erfahrung bei.

Hingegen sind die öffentlich von Westen her beförderten Ost-Debatten ein eigener Geschäftszweig. Der bietet selten Überraschungen, oft aber Verzerrungen oder Verklärungen. Wo soziologisch klar geurteilt werden könnte, wird psychologisiert oder agitiert.

Das geschieht auch von Osten aus. Es ist eine Legende, dass sich die Mehrheit am 9. November 1989 eine andere, eine reform-sozialistische DDR gewünscht hätte. Man wollte mehrheitlich nicht eine andere, sondern gar keine DDR mehr. Der Weg hin zu dem, was heute abfällig „Anschluss“ genannt wird, war ein Weg, der mehrheitlich gewollt gewesen war. Ein Weg, der auch von Illusionen getrieben war. Aber ohne Illusionen gibt es keinen Aufbruch.

War der Mauerfall ein Tag der Freiheit? Ja. Mehr noch ein Tag der Befreiung. Für alle, die endlich die Freiheit zu leben wünschten. Die etwas anderes wollten und wollen als eine DDR mit Westgeld.

Das Tor ging auf, die Menschen gingen hindurch. Dass sich das Tor nicht wieder verengt oder schließt, darum geht es heute.