"Keine Krankheitseinsicht" "Keine Krankheitseinsicht": 18-jähriger Schulverweigerer landet in Psychiatrie

Badeborn - Vier waren es wohl, in Uniform. So richtig kann Anja Wetterau nicht mehr sagen, was damals im Februar geschehen ist. Fahrig fuhrwerkt sie in Unterlagen herum, irgendwo ist noch ein Brief, ein Stück Akte, das sie zeigen will. Polizei, vor unserem Haus, sagt sie und die Stimme der Enddreißigerin geht in die Höhe. Die Beamten hätten gewartet, hinterm Hoftor, so dass man sie vom Haus aus nicht sehen konnte. „Die waren gekommen, um unseren Samuel abzuholen“, empört sich Anja Wetterau.
Samuel ist der 18-jährige Sohn der Familie aus Badeborn bei Quedlinburg, die keine ganz normale Familie ist. Seit Anja Wetterau und ihr Mann Andreas Ende der 90er auf der Suche nach „einem Platz, an dem wir selbstbestimmt sein können“ hierher kamen, lagen sie mit Behörden im Streit. Wetteraus sind strenggläubige Christen und sie weigerten sich vom ersten Tag an, ihre Töchter und Söhne in eine reguläre Schule zu schicken.
Dort gebe es Drogen und Gewalt, sagt Anja Wetterau. Die studierte Gymnasiallehrerin erstellte lieber selbst Lehrpläne und lehrte Samuel, Nathaniel und die anderen sechs Schreiben, Rechnen und Fremdsprachen in dem Holzhaus auf dem Gelände des alten Bauernhofes, in dem die Familie lebt.
Streifenwagen vor der Tür
Es brauchte einen langen Kampf vor Gerichten, bis keine Bußgeldbescheide mehr kamen und das Jugendamt nicht mehr drohte, dem Paar die Kinder wegzunehmen. Denn Erziehungsberechtigte müssen in Deutschland sicherstellen, dass ihre Kinder mindestens neun Jahre eine staatlich anerkannte Schule besuchen, um ihnen die Möglichkeit zur Erlangung von Bildung und Sozialkompetenz zu geben. Zwar gibt es nach Auskunft von Silke Stadör vom Landesschulamt „derzeit keine Befreiung von der Schulpflicht für die Kinder der Familie“. Gleichzeitig seien aber auch „keine offenen Verfahren“ zur Durchsetzung der Schulpflicht bekannt.
Das hieß für die Familie seit einiger Zeit, dass keine Streifenwagen mehr vor der Tür halten, um Jonathan eines der Geschwister mit Blaulicht zur Schule zu fahren. Aber auf einmal das: Am Telefon soll Samuel, erfahren die erschrockenen Eltern bei der Polizeiaktion von den Beamten, einem Mitarbeiter eines christlichen Kollegs gedroht haben, ihn umzubringen. Daher müsse man ihn nun mitnehmen. Minuten später ist der älteste Wetterau-Sohn fort. „Und wir wussten nicht warum“, klagt Anja Wetterau. Beatrix Mertens, Sprecherin der Polizeidirektion Nord, verweist darauf, dass der Betroffene „verwirrt gewirkt“ habe. „Ein herbeigerufener Notarzt hat empfohlen, ihn einzuweisen.“ Samuel Wetterau sei anschließend, so sagt es das Einsatzprotokoll, freiwillig mitgekommen.
Verhängnisvoller Vergleich
Wochen später erinnert sich der direkt Betroffene nur undeutlich. „Ich bin freiwillig mitgegangen, denn ich wollte nicht, dass sie meine Familie einsperren“, sagt Samuel Wetterau. Damals, bei dem verhängnisvollen Anruf, sei er zornig gewesen, weil seine Bewerbung um ein Theologiestudium von einer Privat-Uni abgelehnt worden war. „Ich habe zu meinem Gesprächspartner gesagt, wenn ich ein KGB-Agent wäre, dann würde ich uns beide umbringen.“ Samuel Wetterau hielt das, sagt er, für eine „zugespitzte These in einer erregten Diskussion“. Wenn, habe er gesagt. Konjunktiv. „Ich bin ja aber nicht beim KGB.“
Für ihn ist das klar. Sein Gegenüber rief trotzdem die Polizei. Und zwei Stunden später lag Samuel Wetterau, ein großer, kräftiger Junge mit kindlichen Gesichtszügen, in einem abgeschlossenen Raum in der Nervenklinik in Bernburg. Ohne Zwischenhalt auf dem Revier und Begutachtung sei er dorthin gebracht worden, klagt er. „Im Auto habe ich versucht, alles zu erklären“, erinnert er sich, „aber als ich merkte, was die mit mir machen, habe ich mich gewehrt.“
Aus Sicht der Beamten bestand nun nicht mehr nur die Gefahr, dass Samuel Wetterau andere verletzen könnte, sondern auch die, dass er sich selbst verletzt. Im Krankenhaus wird er auf seiner Liege angeschlossen. Niemand, sagt er, habe ihm gesagt, was los sei. Er selbst war der Ansicht, er müsse jetzt dafür büßen, nicht fest genug an Gott geglaubt zu haben. „Ich fühlte mich wie ein Märtyrer.“
Hilfe von außen kommt auch nicht. Denn daheim in Badeborn ist Anja Wetterau in Panik. „Ich glaubte, jetzt haben sie Samuel, jetzt holen sie auch die anderen.“ Eilig packt sie Sachen zusammen, ruft ein Taxi und flieht mit den Kindern aus Badeborn. „Ich wollte nicht, dass die uns kriegen.“
Warum die Mutter nun in fortwährender Angst lebt, lesen Sie weiter auf Seite 2.
Wer die sind, weswegen sie die Familie mit dem ruhigen Vater Andreas Wetterau, von Haus aus Sozialwissenschaftler, und der quecksilbrigen Mutter Anja verfolgen sollten, erklärt sich nur aus der Innensicht der vom Glauben beseelten Familie. Anja Wetterau sieht sich und die ihren unter ständiger Bedrohung. Hat nicht das Schulamt ihnen das Recht streitig machen wollen, ihre Kinder selbst zu beschulen? Hat nicht das Jugendamt versucht, ihnen wegen „beharrlicher Schulverweigerung“ das Sorgerecht für die älteste Tochter zu entziehen?
Sie studiert heute Musik, eine normale junge Frau. Ihre Mutter aber lebt in fortwährender Angst. „Wir sind vogelfrei“, glaubt sie, „ein falscher Schritt, und sie nehmen uns unsere Kinder weg.“ Seit dem jahrelangen Streit um die Beschulung der Kinder ist die Welt klar getrennt. Hier drinnen das heile, warme, von der Bibel regierte Familiennest. Draußen die kalte Wirklichkeit der Verwaltungen, die auf Paragrafen reiten und - wie der Landkreis Harz - unter Berufung auf den Datenschutz jede Stellungnahme ablehnen.
Samuel Wetterau, der nie eine staatliche Schule besucht hat, in diesen Wochen aber bei einem Internet-Anbieter seine Abi-Prüfungen schreiben wollte, hat den Spagat für einen Moment nicht mehr hinbekommen. Es ist im Nachhinein nicht mehr zu rekonstruieren, was er genau zu wem gesagt hat. Nicht einmal wer ihn angezeigt hat, lässt sich feststellen. Alle, die infrage kommen, bestreiten, die Polizei gerufen zu haben.
Ergebnis ähnelt dem Fall Mollath
Nur das Ergebnis ähnelt in den Augen von Anja Wetterau dem berühmten Fall Gustl Mollath: Ein Mensch sitzt in der Psychiatrie und er kann sich nicht dagegen wehren. So zumindest kam es Samuel Wetterau vor, als er in seinem Zimmer lag, das er eine Zelle nennt. Er habe in diesen Stunden „mit dem Leben abgeschlossen“, sagt er. „Ich wollte dulden und die Prüfung mit Gottes Hilfe bestehen.“
Samuel Wetterau spricht oft mit solch biblischem Ernst. Die Jahre in der glühend gläubigen Kleingruppe haben ihn geprägt. Auf Fremde wirkt er etwas weltfremd. In der Psychiatrie aber wird daraus „paranoide Schizophrenie“. Eine Richterin, der er heute vorwirft, sie habe sich ihm nicht vorgestellt, so dass er sie für eine Ärztin hielt, besucht ihn und verfügt eine Fortdauer des Klinikaufenthaltes.
Eine albtraumhafte Situation für den jungen Mann. Er weiß weder, was man ihm vorwirft, noch wie es weitergeht.
Wie das Gericht die Sache beurteilt, lesen Sie auf Seite 3.
Nimmt er seinen Klinik-Aufenthalt hin, spricht das für die Behauptung, er sei depressiv. Protestiert er dagegen, kann er - so argumentiert ein späterer Gerichtsbeschluss - die „Notwendigkeit der Unterbringung nicht einsehen“. Und muss deshalb bleiben. Draußen auf dem Krankenhausflur steht Andreas Wetterau und erschrickt, „in welchem Getriebe man auf einmal steckt“. Durch die Jahre des Streites mit Schul- und Jugendämtern gewarnt, hat Samuel seinen Eltern eine Vorsorgevollmacht erteilt, die ihnen erlaubt, für ihren Sohn zu handeln, wenn er selbst es nicht vermag. Theoretisch. Denn in der Unterbringungssache 6 XIV 3/14 lässt das Gericht diese Vollmacht nicht gelten. Obgleich Vater Andreas einer stationären Behandlung seines Sohnes widerspricht, bleibt Samuel Wetterau in Gewahrsam.
Der Telefonanruf ist zu einem freiheitsberaubenden Faktum geworden. Es bestehe eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ urteilt das Gericht und bestellt einen Verfahrenspfleger, der die Interessen des Jungen von Amts wegen vertreten soll.
Erfolglose Beschwerde
Samuel Wetterau lehnt diese Betreuung ab. Doch eine Beschwerde gegen die Verwahrung wird sowohl vom Amts- als auch vom Landgericht zurückgewiesen. Ärztliche Zeugnisse belegten eine krankhafte seelische Störung, heißt es. Vor Gericht habe der Betroffene „keine Krankheitseinsicht“ gezeigt, so dass nur eine stationäre Behandlung die Gefahr für ihn selbst und andere abwenden könne. Einen Eintrag ins Erziehungsregister gibt es wegen des Drohanrufes obendrauf. „Dabei ist Samuel“, sagt Vater Andreas, „bisher nie zu dem Vorwurf gehört worden.“
Die Familie wehrt sich mit Widersprüchen und Briefen. Die Aufforderung, Auslagen zu ersetzen, lehnt sie ab. „Ich war eingesperrt, dafür werde ich nicht noch bezahlen“, sagt Samuel Wetterau. Er sitzt wieder im Haus in Badeborn und versucht, gelassen zu wirken. Gefahr vorbei? Mutter Anja wühlt aufgeregt in Unterlagen. „Wir haben keine Angst vor den Ämtern“, sagt sie, „wir haben Angst, unsere Kinder zu verlieren.“ (mz)