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Kaugummi-Fabrik Kaugummi-Fabrik: Geschmack der Freiheit aus Bernburg

Von Torsten Adam 23.04.2013, 18:44
Ein Teil des Bernburger Kaugummis wird schon seit 1985 unter dem geschützten Markennamen „Jamboree“ vertrieben.
Ein Teil des Bernburger Kaugummis wird schon seit 1985 unter dem geschützten Markennamen „Jamboree“ vertrieben. Pülicher Lizenz

Bernburg/MZ - Ein süßlicher, appetitanregender Duft wabert durch die Produktionshalle. Aus den Maschinen drängeln sich tausende kleine weiße Kugeln. Ein paar Meter entfernt drehen sich riesige Dragierkessel. In den Trommeln rasseln grüne, blaue, rote und gelbe Kugeln wie bei der Lottoziehung durcheinander. Nur haben sie keine Nummern. Hier, am Stadtrand Bernburgs, produziert die Wohlgemuth Süßwaren GmbH Kaugummi. In doppelter Hinsicht eine Besonderheit: 1978 aufgebaut, hat das Werk nicht nur seinen 1986 pleite gegangenen westdeutschen Lizenzgeber und später die turbulenten Wendejahre überlebt. Es ist auch der einzige verbliebene Hersteller von Kugel-Kaugummi in Deutschland überhaupt.

Kaugummi, die uramerikanische Erfindung, der Geschmack der Freiheit, hat in der Saalestadt eine lange, wechselvolle Geschichte. Sie beginnt vor genau 35 Jahren mitten im Sozialismus mit jenem Produkt, das als einer der Inbegriffe des kapitalistischen Klassenfeindes gilt. Auf der verzweifelten Suche nach Devisen wirft die DDR-Staatsmacht die eigene Propaganda über Bord.

Mehr als 120 Lizenzprodukte

Die staatliche Forum-Handelsgesellschaft bahnt den Deal mit der westdeutschen Firma OK-Kaugummi an; über eine sogenannte Gestattungsproduktion, wie es sie überall gibt zwischen Ostsee und Erzgebirge: Salamander-Schuhe aus Weißenfels, Nivea-Creme aus Waldheim, Bärenmarke-Kondensmilch aus Schwerin. 120 Artikel werden mit der Lizenz von Firmen aus der Bundesrepublik hinter dem Eisernen Vorhang hergestellt.

In den 80er Jahren stammt kaum noch eines der Angebote aus den Intershop- und Delikat-Läden - entgegen des Volksglaubens - von der anderen Seite der Mauer. Otto-Normal-Bürger kommt kaum in den Genuss dieses Sortiments. In den Regalen der HO-Kaufhallen und Konsums sucht man die Artikel vergeblich - auch das Kaugummi aus Bernburg.

Dabei ist die Pinneberger Firma OK nur zweite Wahl von Forum, wie Gerhard Klußmeier anhand von Akten der Stasi-Unterlagenbehörde recherchiert hat (siehe „Vorstellung in der Möwe“). Danach macht ein Beschluss des DDR-Ministerrats 1973 den Weg frei für die Suche nach einem Lizenzgeber. Erste Adresse ist Weltmarktführer Wrigley. Doch die Gespräche scheitern, weil die US-Amerikaner nicht garantieren wollen, einen Teil der Ware abzunehmen und damit die Investitionskosten für den Aufbau der Fabrik abzusichern.

Die schwedische Firma ASBA vermittelt dann 1975 den Kontakt zu OK, zu dieser Zeit größter Kaugummi-Produzent in der Bundesrepublik. Beide Seiten werden sich einig. Im Dezember 1977 wird der Vertragsabschluss besiegelt. Nicht ohne dass die DDR-Seite versucht, parallel beim OK-Konkurrenten Hitschler noch bessere Bedingungen auszuhandeln - ohne Erfolg.

Die Standortwahl fällt auf Bernburg - wegen günstiger Lieferbedingungen für die Zutaten. Den Zucker sollen die Rüben von den nährstoffreichen Böden der Börde liefern, den Glukosesirup der VEB Maizena im nahen Barby. Für die technologische Beratung verpflichtet die DDR ihren renommiertesten Lebensmittelforscher: Peter Kretschmer. Seine Erfindungen dürften den meisten Ostdeutschen bestens bekannt sind. Er entwickelte unter anderem die „Tempo-Erbsen“ und den Kochbeutelreis „Kuko“.

Im November 1977 erfolgt die Grundsteinlegung in Bernburg. Für neun Millionen D-Mark wird die Fabrik binnen eines knappen Jahres aus dem Boden gestampft. Zum Tag der Republik am 7. Oktober 1978 nimmt sie die Produktion auf und wird in den VEB Beikowa („Bernburger Eis- und Konditoreiwaren“) eingegliedert.

„Um Arbeitskräfte zu akquirieren, sind einfach andere Betriebe wie die Könneraner Getränkefabrik oder die Autosattlerei und der VEB Spielwaren in Bernburg geschlossen worden“, erklärt Lutz Unger. Der heute 68-Jährige ist von 1984 bis 1992 zunächst als Energetiker und dann als Technischer Direktor Teil der „Kaugummi-Bude“, wie sie im Volksmund genannt wird. Die Arbeit dort sei kein Zuckerschlecken gewesen: zu wenig Mitarbeiter, immer wieder technische Probleme mit den importierten Maschinen. Selbst ein Drei-Schicht-System reicht nicht aus, um die Anforderungen aus dem - wie er sagt - „Sklaven-Vertrag“ zu erfüllen.

Stasi überwacht Produktion

„80 Prozent der jährlich 2 000 produzierten Tonnen gingen Retour in den Westen, der Rest floss in die Intershops oder andere Kanäle der Forum-Handelsgesellschaft.“ OK sei ja nicht nach Bernburg gekommen, „um hier zu helfen, den Sozialismus aufzubauen“, bilanziert er nüchtern. Ein Mitspracherecht hat die Betriebsführung nicht, „das Sagen hatten andere“. Die Stasi unterhält ein eigenes Büro, überwacht ebenso wie Forum die Produktion.

Wie in jedem DDR-Betrieb machen die Mitarbeiter das Beste aus der schwierigen Situation. Weil Ersatzteile Devisen kosten, greifen sie zur Selbsthilfe. „Wir hatten Betriebe im Umfeld, die uns unterstützten. Beispielsweise den VEB Landmaschinenbau. Um eine benötigte Gelenkwelle so schnell wie möglich zu erhalten, haben wir dort einen halben Sack Kaugummi hingebracht.“

Qualitätsschwankungen bei den Zutaten oder minderwertige Verpackungen führen dennoch ab und an zu Produktionsausfällen und Ausschussware. Diese wird mit Genehmigung der Stadt auf die nahe Müllhalde am Salzwerk gebracht und von einer Raupe zugeschoben, berichtet Eveline Kuhrt, seit 1985 Leiterin der Exportabteilung. Das spricht sich in der Stadt schnell herum. Immer wieder wühlen Kinder und Jugendliche daher auf der Müllkippe den begehrten „Westkram“ heraus, den es nicht zu kaufen gibt. Der ein oder andere Mitarbeiter greift direkt im Betrieb zu. An der Pforte werden daher stichprobenartig Taschenkontrollen eingeführt.

Mitte der 1980er Jahre verdichten sich die Anzeichen, dass Lizenzgeber OK in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten ist, vor allem aufgrund von Fehlgeschäften in den USA. Zu diesem Zeitpunkt soll OK bei Forum bereits mit zwei Millionen D-Mark in der Kreide stehen. Das letzte Stündlein für die Pinneberger schlägt 1986.

In Bernburg läuft die Produktion jedoch weiter. Und neue Abnehmer sind schnell gefunden, Hitschler kommt nun doch noch zum Zug. Auch in den Kaufhallen sind die „Bubble-Gums“ jetzt zu erwerben, wenngleich nur als „Bückware“. 1990 ist aber schlagartig Schluss. „Nach der Währungsunion konnten wir Hitschler nicht mehr zu den bisherigen Dumpingpreisen beliefern“, erklärt Lutz Unger. Für 1,10 D-Mark ging das Kilo Kaugummi damals in den Westen. Zum Vergleich: Heute liegt der Abgabepreis im Schnitt bei 3,20 Euro.

Dem VEB Beikowa bleibt das Schicksal seines ehemaligen Lizenzgebers erspart, auch wenn die Treuhand den Betrieb zerschlägt. Für die Backwaren-Abteilung erhält die Helmstedter Familie Steinecke den Zuschlag, die Kaugummi-Produktion wird als „nicht sanierungsfähig“ eingestuft. Dennoch wird sie an eine Beteiligungsgesellschaft verscherbelt. „Wir haben aus der Zeitung davon erfahren. Gekümmert hat sich vom neuen Eigentümer um uns niemand. Das war eine verrückte Zeit“, erinnert sich Eveline Kuhrt. Der Absatz bricht zusammen, Entlassungswellen rollen. Die heute 59-Jährige erhält mit Kerstin Frühauf die Fabrik am Leben, erschließt neue Absatzmärkte, knüpft Kontakte zu ehemaligen Abnehmern.

Ganz klein angefangen

Mit dem Einstieg des Stuttgarter Bäckers Thomas Wohlgemuth, der den Betrieb zunächst 1993 pachtet und dann 2006 kauft, geht es langsam wieder aufwärts. „Wir haben ganz klein angefangen, mit acht Tonnen“, sagt Eveline Kuhrt. Heute liegt die Produktion wieder auf Vorwende-Niveau, allerdings wird deutlich effizienter gearbeitet. Statt der einst 180 Mitarbeiter werden nur noch 24 benötigt. 2 000 Tonnen Kugeln verlassen jährlich das Werk, das 2006 grundlegend saniert worden ist. Die bunten Kugeln in mehr als 20 Farben sind 1,6 bis 10 Gramm schwer, teilweise in Fruchtform, mal mit, mal ohne Brausepulver.

Die Produktion von Kaugummi-Streifen indes wurde schon zur Wende eingestellt. „Wrigley war zu übermächtig. Wir konzentrieren uns auf das, was wir können“, sagt Kuhrt, die heute weiter „als Mädchen für alles“ die rechte Hand von Juniorchef Jochen Wohlgemuth ist.

Gekaut wird der Kaugummi „made in Bernburg“ in 27 Ländern von Europa über Südamerika und Australien bis in den Nahen Osten. 60 bis 65 Prozent der Ware geht ins Ausland, ist aber auch in hiesigen Drogerien und Supermärkten erhältlich - oder im Werksladen.

Eveline Kuhrt „klebt“ mit Leib und Seele am Betrieb: „Kaugummi, etwas anderes kann ich mir in meinem Leben nicht vorstellen“, sagt sie, schiebt aber nach: „Jetzt bin ich in einem Alter, in dem ich Stück für Stück loslassen kann.“ Auch weil sie den Betrieb in guten Händen weiß.

Jochen Wohlgemuth (29) ist seit 2006 Juniorchef in Bernburg.
Jochen Wohlgemuth (29) ist seit 2006 Juniorchef in Bernburg.
Pülicher Lizenz
„Das Sagen hatten andere“, sagt Lutz Unger, der frühere Technische Direktor.
„Das Sagen hatten andere“, sagt Lutz Unger, der frühere Technische Direktor.
engelbert pülicher Lizenz
Eveline Kuhrt, Mitglied der Geschäftsleitung, meint: „Das war eine verrückte Zeit“.
Eveline Kuhrt, Mitglied der Geschäftsleitung, meint: „Das war eine verrückte Zeit“.
engelbert pülicher Lizenz