Kapitän aus Könnern Kapitän aus Könnern: Auge in Auge mit Piraten vor Ostafrika

Könnern - Im April 2009 kapern Piraten vor der somalischen Küste das US-Containerschiff „Maersk Alabama“ und nehmen den Kapitän als Geisel. Bei dessen gewaltsamer Befreiung durch US-Marines vier Tage später sterben drei der Piraten. Das für den diesjährigen Oscar nominierte Doku-Drama „Captain Philipps“ mit Hollywood-Star Tom Hanks in der Hauptrolle brachte die dramatischen Geschehnisse vor wenigen Monaten auch in die deutschen Kinos.
„Der Film ist sehr realitätsnah“, urteilt der pensionierte Schiffskapitän Helmut Müller. Der stämmige Mann mit dem weißen Bart und den freundlich blitzenden Augen vermittelt das klassische Bild eines „Seebären“. Und er weiß, wovon er spricht. Der in Könnern (Salzlandkreis) geborene und im benachbarten Dorf Garsena aufgewachsene 66-Jährige ist vor drei Jahren selbst im Indischen Ozean angegriffen worden.
Angriff in der Dämmerung
Es ist der Abend des 21. Oktober 2011. Die Sonne ist schon am Horizont über der glatten See versunken, einige hundert Seemeilen nördlich der Seychellen-Inseln. Helmut Müller und seine Crew sind mit ihrem Frachtschiff „HR Constellation“ der Hamburger Harmonia-Reederei auf dem Weg nach Madagaskar, beladen mit Erdöltechnik aus China, als plötzlich Maschinengewehrfeuer die Stille zerreißt. „Zwei Schnellboote näherten sich uns im aufgewühlten Heckwasser, so dass sie vom Radar nicht auszumachen waren. Sie haben sofort ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet“, erinnert sich der Kapitän. Er schnallt sich auf der Brücke eine Panzerweste um und setzt den Stahlhelm auf, um nicht von möglichen Querschlägern aus den Schiffsaufbauten getroffen zu werden. „Wir löschten sofort alle Lichter an Bord und fuhren Ausweichmanöver wie ein flüchtender Hase“, berichtet er. Seine zwei Sicherheitsleute feuern Warnschüsse in die Luft und schießen dann zurück, weil die Schnellboote sich zunächst nicht abschütteln lassen.
Die Zahl der Piratenangriffe auf den Weltmeeren ist im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit sechs Jahren gesunken.
Nach Angaben des Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB) ist dies insbesondere dem verbesserten Schutz der Schiffe vor der Küste Somalias durch Militärstreitkräfte, der sicherheitstechnischen Aufrüstung der Frachter und dem Einsatz von privaten Sicherheitskräften an Bord zu verdanken.
Lediglich 15 Überfälle wurden demnach 2013 somalischen Piraten zugerechnet. 2012 waren es noch 75, 2011 sogar 237 Angriffe. Weltweit wurden im vergangenen Jahr von Seeräubern 300 Besatzungsmitglieder als Geiseln genommen. Ein Mensch wurde dabei getötet und insgesamt 21 mit Schusswaffen oder Messern verletzt.
Ein Schwerpunkt der Piraterie sind inzwischen die westafrikanischen Gewässer, wo nigerianische Piraten als besonders gewalttätig gelten. Rund ein Fünftel der weltweiten Seeräuberei entfällt auf Westafrika. Dort gerieten im Vorjahr auch zwei Schiffe deutscher Reeder in die Hände von Piraten.
Die Bundeswehr beteiligt sich seit 2008 an der Anti-Piraterie-Operation „Atalanta“ vor Somalia. Der Bundestag hat vor drei Monaten beschlossen, das Mandat zum Einsatz von maximal 1200 deutschen Soldaten um ein Jahr bis zum 31. Mai 2015 zu verlängern. (TAD)
Neun Jahre nach dem ersten Piratenüberfall vor Afrikas Ostküste haben die meisten Reedereien längst zum Selbstschutz gegriffen und private Sicherheitsleute engagiert, die die wertvolle Fracht auf dem Weg durch eines der gefährlichsten Seegebiete der Welt mit Waffen schützen. Es sind Männer, die zuvor in Spezialeinheiten ihrer Heimatländer wie in der deutschen Anti-Terror-Gruppe GSG 9 kämpften.
„Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Piraten weiter angreifen, wenn das Feuer nicht erwidert wird“, erklärt Helmut Müller. Wittern die Kidnapper nämlich leichte Beute, würden sie mit Hilfe von zuvor erbeuteten Frachtschiffen und deren Radartechnik Verstärkung anfordern. „Sie sind durch früher kassiertes Lösegeld bestens ausgerüstet mit modernen Navigationsgeräten und Waffen, haben selbst Berater mit Detailkenntnissen darüber, wie sich ein Schiff am besten kapern lässt.“
Minuten wie eine Ewigkeit
Rund 15 Minuten dauert die Auseinandersetzung an diesem Abend. Dann ist es geglückt, die Angreifer im Schutz der Dunkelheit abzuschütteln. Eine quälend lange Zeit für ihn, wie Müller zugibt. „Ich hatte wirklich Angst um mein Leben. Wir hatten ja niemandem etwas zuleide getan und dann wird man unerwartet beschossen.“ Als die ersten Kugeln im Schiffsrumpf einschlagen, hat der Kapitän längst per Funk die internationale Anti-Piraterie-Zentrale in Dubai verständigt, die den militärischen Schutz der zivilen Seefahrt im Indischen Ozean koordiniert und Kriegsschiffe in der Region patrouillieren lässt. Damit aber kann man kaum wirkliche Hilfe leisten, wie Müller glaubt: „Ehe die Kriegsschiffe in diesem riesigen Seegebiet eingreifen können, ist das Schiff längst verloren oder die Piraten sind weg.“ Darum sei das Engagement privater Sicherheitsdienste, das im Dezember 2012 vom Bundestag auch für Handelsschiffe unter deutscher Flagge legitimiert worden war, für die Reedereien der einzige echte Schutz. Den direkten Einsatz von Soldaten auf Handelsschiffen lehne die Bundesregierung bisher aus rechtlichen Gründen ab. Im Gegensatz zu anderen Staaten wie beispielsweise Russland, Frankreich oder den Niederlanden.
Wie der gebürtige Sachsen-Anhalter Kapitän wurde und warum er stundenlang von der Stasi verhört wurde, lesen Sie auf Seite 2.
Seitdem 2002 mit dem zypriotischen Frachter „Panagia Tinou“ die Geschichte der neuzeitlichen Piratenüberfälle am Horn von Afrika begonnen hatte, versuchten Reedereien zunächst, ein Entern durch passive Maßnahmen zu verhindern. „Die Berieselung der Außenbordwände mit Wasser oder Seifenlauge und das Anbringen von Stacheldraht rund um die Reling hat die rasant zunehmenden Überfälle aber nicht eindämmen können“, weiß Müller. Erst die Organisation von multinationalen Schiffskonvois und die erhöhte militärische Präsenz neben den privaten Sicherheitsdiensten habe die Piraterie in den vergangenen Jahren zurückgedrängt. Ein durchaus erfolgreiches Mittel seien auch die sogenannten Panikräume.
Durch versteckte Geheimtüren im Schiffsrumpf kann die Besatzung hier Zuflucht finden und per Satellitentelefon Hilfe anfordern, wenn Piraten an Bord gelangen. „Den Angreifern, die es auf millionenschwere Lösegeldforderungen abgesehen haben, ist ihr einziges Druckmittel, die Geiselnahme, damit genommen“, erklärt der Kapitän. Ihm selbst sei dies zum Glück erspart geblieben. Er wisse aber von einem Fall aus seiner Reederei, bei dem Kidnapper vergeblich die Crew suchten, aus Wut randalierten und dann unverrichteter Dinge wieder von Bord gegangen sind.
Die Zahl der Piratenangriffe auf den Weltmeeren ist im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit sechs Jahren gesunken.
Nach Angaben des Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB) ist dies insbesondere dem verbesserten Schutz der Schiffe vor der Küste Somalias durch Militärstreitkräfte, der sicherheitstechnischen Aufrüstung der Frachter und dem Einsatz von privaten Sicherheitskräften an Bord zu verdanken.
Lediglich 15 Überfälle wurden demnach 2013 somalischen Piraten zugerechnet. 2012 waren es noch 75, 2011 sogar 237 Angriffe. Weltweit wurden im vergangenen Jahr von Seeräubern 300 Besatzungsmitglieder als Geiseln genommen. Ein Mensch wurde dabei getötet und insgesamt 21 mit Schusswaffen oder Messern verletzt.
Ein Schwerpunkt der Piraterie sind inzwischen die westafrikanischen Gewässer, wo nigerianische Piraten als besonders gewalttätig gelten. Rund ein Fünftel der weltweiten Seeräuberei entfällt auf Westafrika. Dort gerieten im Vorjahr auch zwei Schiffe deutscher Reeder in die Hände von Piraten.
Die Bundeswehr beteiligt sich seit 2008 an der Anti-Piraterie-Operation „Atalanta“ vor Somalia. Der Bundestag hat vor drei Monaten beschlossen, das Mandat zum Einsatz von maximal 1200 deutschen Soldaten um ein Jahr bis zum 31. Mai 2015 zu verlängern. (TAD)
Vor genau 50 Jahren hatte Helmut Müller zum ersten Mal als Matrosen-Lehrling in Rostock Schiffsboden betreten. „Ich wollte unbedingt zur See fahren, ein Schulkamerad hat mich mit dieser Idee begeistert. Es war ja damals die einzige Möglichkeit, die Welt kennenzulernen und aus der DDR rauszukommen“, erinnert sich der gebürtige Sachsen-Anhalter, der bis zu seiner Pensionierung vor anderthalb Jahren fast jedes Küstenland auf dem Globus mit Handelsschiffen angefahren hat. Davon 30 Jahre als Kapitän. Dies habe auch Neider auf den Plan gerufen - und folgende stundenlange Verhöre seiner Ehefrau bei der DDR-Staatssicherheit. Bis der Denunziant, ein Nachbar in Rostock, sein Märchen von der angeblich geplanten Republikflucht eingestand.
Panama-Kanal ein Weltwunder
„Der Beruf hat nie von seiner Faszination eingebüßt. Es ist einfach toll, während der Arbeit fremde Länder und Menschen kennen lernen zu dürfen.“ Müller, der jahrelang für den VEB Deutsche Seereederei Kadetten ausbildete, schwärmt von der schwierig zu befahrenen, aber optisch überaus reizvollen Magellanstraße vor der Küste Südamerikas und der Durchfahrt des Panama-Kanals, dessen Baukunst einem Weltwunder gleichkomme. Besonders schöne Erinnerungen verbindet der Mann, der fließend Englisch spricht und sich auch in Spanisch und Russisch verständigen kann, mit den bescheidenden und überaus freundlichen Menschen in Chile.
Nichtsdestotrotz sei die Arbeit mit zahlreichen Entbehrungen für seine Frau und Tochter und einer enormen Verantwortung für eine zig Millionen teure Fracht verbunden gewesen. Er sei für seine internationale Besatzung ein ebenso strenger wie gerechter Kapitän gewesen, so Müller. „Eine Meuterei wie auf der ,Bounty’ hat es bei mir nicht gegeben“, sagt er schmunzelnd. Dafür oft schwere See, die ihm Heiligabend im Jahr 1985 fast zum Verhängnis geworden wäre. „Wir waren nördlich der Azoren in den Ausläufer eines Hurrikans geraten, der damals so nicht vorhergesagt worden war.“ Bei Windstärke zwölf und 30 Meter hohen Wellen hatte das Kühlschiff bereits 38 Grad Schlagseite. „Ich hatte große Sorge, dass wir untergehen.“ Seine zu diesem Zeitpunkt bereits langjährige Erfahrung als Offizier und Kapitän habe ihm letztlich geholfen, die missliche Lage zu meistern.
Berufsunfall rettet das Leben
Ausgerechnet seinem einzigen schweren Unfall an Bord hat es Müller zu verdanken, dass er noch am Leben ist. Als vor acht Jahren auf dem Ontario-See bei der Verladung ein Kantholz sein Bein zertrümmerte, diagnostizierten US-Ärzte bei der folgenden MRT-Untersuchung in Milwaukee Nierenkrebs, den er inzwischen besiegt hat. Bei den routinemäßigen Seemanns-Tauglichkeitsüberprüfungen war die Krankheit zuvor nicht festgestellt worden. „Ohne diesen Unfall wäre ich heute tot“, ist der 66-Jährige überzeugt.
Nach fast einem halben Jahrhundert auf See unternahm Müller vor zwei Jahren seine letzte Reise, die ihn nach Indien führte. „Da habe ich meine Pensionierung schon herbeigesehnt“, sagt er. Denn trotz aller Annehmlichkeiten habe der Beruf „immer weniger mit meiner Auffassung von Seefahrt gemein“. Müller spielt auf die weltweit grassierende Korruption an. „Zum Beispiel im Suez-Kanal wird die Dreistigkeit der Lotsen immer schlimmer. Ohne Zigaretten und Whisky verrichten sie ihre Arbeit nur widerwillig.“ In vielen Häfen sei die Abfertigung durch die Behörden ohne das sogenannte „Bakschisch“ gar nicht mehr möglich.
Mit alldem will und muss sich Helmut Müller jetzt nicht mehr herumschlagen. Er hat sich mit seiner Frau im Emsland ein Häuschen gekauft. Wenn ihn die Sehnsucht packt, ist die Nordsee nur eine knappe Autostunde entfernt, um sich die salzige Brise um die Nase wehen zu lassen, die ihn fast das ganze Leben lang begleitet hat. In ferne Länder zieht es den Seefahrer nicht mehr. „Ich will jetzt mit meiner Frau Deutschland kennen lernen. Dafür hatte ich ja vorher nie Zeit.“