"Kaltes Tal" in Stolberg "Kaltes Tal" in Stolberg: Eine Straße macht ihrem Namen alle Ehre

Stolberg/MZ - Anno dazumal werden sie die Abkühlung auf dem Rückweg zum Schloss wohl zu schätzen gewusst haben. Schließlich war es eine durchaus schweißtreibende Angelegenheit, die die Herren in diese Straße in Stolberg (Mansfeld-Südharz) getrieben hat. „Da hinten, hinter der Kurve“, sagt Ortsbürgermeister Ulrich Franke lächelnd und zeigt ein Stück aus dem Ort hinaus, „war mal ein Freudenhaus“. Bis kurz nach dem Krieg soll es existiert haben, als das Schloss schon Forstschule war. „Tante Anna“, wie das einstige Etablissement genannt wird, gibt es so nicht mehr. Die Abkühlung in der Straße schon noch. „Kaltes Tal“ heißt sie und wer Stolberg besucht, wird merken: nicht zu Unrecht.
Draußen sind es knapp über 30 Grad, die Luft an diesem Nachmittag steht weitgehend. „Wenn Sie hier um die Kurve kommen, weht aber immer ein kaltes Lüftchen“, sagt Anwohnerin Almi Melzer. Und tatsächlich: An die Wohlfühl-Klimaanlage auf der Autofahrt mag das vielleicht nicht heranreichen. Aber wer den Alten Markt passiert und ins Kalte Tal einbiegt, hat dank der Luftwirbel gut und gern fünf Grad weniger. Vielleicht nicht gemessen, aber wenigstens gefühlt.
Früher dürfte es sogar noch frischer gewesen sein, sagt Franke und zeigt auf eine Karte von 1724: Der Bach, „Große Wilde“ genannt floss damals noch oberirdisch und brachte jede Menge kühles Wasser aus den Bergen. Erst anderthalb Jahrhunderte später wurde im Tal eine Straße gepflastert, der Bach verlegt und ab dem Ortseingang unterirdisch geführt. Groß und wild ist er seitdem nicht mehr.
Ort der vier Täler
Heute verleiht vor allem ihre Lage der Straße und den Bewohnern der Häuser, die sich links und rechts an die riesigen Hänge schmiegen, noch immer ein besonderes Wetter: Das Kalte Tal ist das engste von vier Tälern, die sich durch den Ort ziehen und ihm nicht nur einen dieser Tage erfrischenden Unterschied von ein paar Grad zum Nachbarort bescheren, sondern im Frühjahr zudem eine um 14 Tage verspätete Vegetation.
So romantisch die Lage aber auch ist: Stolberg hätte sie fast Ärger bereitet. Für den Status Luftkurort sind 1500 Sonnenstunden jährlich notwendig, bei besonderen Hanglagen wenigstens noch 1350. In einer Wetterstudie kam Stolberg 1999 gerade noch auf 1346. Was manchen angesichts der derzeitigen Temperaturen eher die Stirn runzeln lässt, war damals Tatsache: Stolberg sucht Sonne! Erfurter Studenten haben später empfohlen, den Wildwuchs an den Hängen zu beseitigen, um mehr Licht ins Tal fallen zu lassen - und nicht zuletzt auch die Heizkosten im Winter zu senken. Zumindest zum Teil ist das passiert. Den 2002 verliehenen Luftkurort-Status sieht Franke aber ohnehin nicht mehr in Gefahr.
Kurstätten gibt es inzwischen auch in sonnenscheinreichen Ecken des Ortes, sagt er. Und am Schloss oben auf dem Berg locken seit 2011 Terrassengärten mit barockem Pavillon und Wasserbecken als Teil der Gartenträume. Inzwischen schickt sich Stolberg zu neuen Höhenflügen an: Der Ort wolle der erste heilklimatische Kurort Sachsen-Anhalts werden, so Franke. Er ist nach Untersuchungen der Luftqualität optimistisch.
Heute zählt Stolberg 35000 bis 38000 Übernachtungsgäste im Jahr und rund 280000 bis 300000 Tagesgäste. Eine Wanderroute ist sogar nach dem Kalten Tal benannt. Nach der tieferen Bedeutung des Namens fragen im Prinzip ebenso viele Touristen wie nach der Stubengasse, in der sich früher öffentliche Badestuben befanden, erzählt Claudia Hacker von der Tourist-Information.
Abgekühltes Rathaus
Und wo lässt sich noch Abkühlung finden, wenn man nicht den ganzen Tag im Tal auf- und ablaufen will? Frühere Eiskeller sind aus Sicherheitsgründen alle zugeschüttet worden, erzählt Franke. Das Verlies vom Schloss ist nicht öffentlich begehbar. Eine Möglichkeit wäre freilich das Erlebnisbad Thyragrotte am Rande des Ortes. „Oder“, sagt Franke verschmitzt, „Sie kommen ins Rathaus.“ Dann führt er über die Außentreppe in den zweiten Stock des über 500 Jahre alten Fachwerkgebäudes. Tatsächlich: Im Büro des ehrenamtlichen Ortschefs zeigt das Thermometer dank dicker Wände aus Lehm und Stroh nicht einmal 19 Grad. „Obwohl die Sonne vor den Fenstern steht.“ Welche Wonne!
Wieder auf Wohlfühl-Temperatur gebracht könnte man jetzt freilich zur Dornröschenbank aufsteigen. Die liegt über dem Kalten Tal und bietet nicht nur einen herrlichen Blick nach unten, sondern hat schon Generationen von Jugendlichen zum heimlichen Knutschen verleitet. Wem dabei wieder zu heiß wird, der weiß ja, welchen Rückweg er nehmen sollte.

