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Justiz  Justiz in Deutschland: Zahl der Senioren in Gefängnissen steigt

Von Ralf Böhme 21.06.2016, 18:12
Seit 1995 hat sich in deutschen Gefängnissen die Zahl der Häftlinge über 60 Jahre verdreifacht.
Seit 1995 hat sich in deutschen Gefängnissen die Zahl der Häftlinge über 60 Jahre verdreifacht. dpa

Halle (Saale) - Diebe, Einbrecher, Betrüger, Mörder - auch Gauner werden immer älter. Die Polizei schnappt Senioren jährlich bei mehr als 150 000 Straftaten. Die Folge: Der demografische Wandel macht vor Gefängnistoren nicht Halt. So hat sich die Zahl der Häftlinge über 60 Jahren seit 1995 verdreifacht - ein bundesweiter Trend. In die gleiche Richtung deuten nun die jüngsten Zahlen aus Sachsen-Anhalt.

Aktuell sitzen hierzulande laut Justizministerium 37 Menschen in dieser Altersklasse im Bau. Es sind bereits sechs Senioren-Häftlinge mehr als zu Jahresbeginn. Die meisten der alten Gefangenen verbüßen ihre Strafen in Burg (Jerichower Land). Einrichtungen in Halle und Volkstedt (Landkreis Mansfeld-Südharz) teilen sich die übrigen Insassen 60 plus. Aus Sicht des Justizministeriums sieht sich das Land insgesamt bereits gut gerüstet für den Umgang mit Rentnern hinter Gittern. Pressesprecher Detlef Thiel: „Im Erwachsenenvollzug gibt es genügend Hafträume, die stufenfrei zu erreichen sind.“

Keine Notwendigkeit für speziellen Bereich

In der Burger Anstalt stehen laut Thiel überall Aufzüge zur Verfügung. Sechs Räume seien bereits völlig barrierefrei gestaltet. Die Einrichtung in Halle bringe Bedürftige im Erdgeschoss der ehemaligen Sozialtherapie unter. Anforderungen von Hochbetagten, die beispielsweise einen Rollator benutzen müssen, würden auch schon Teile des Volkstedter Vollzuges erfüllen. Insofern besteht nach Auffassung des Ministeriums keine Notwendigkeit, einen speziellen Seniorenbereich im Justizvollzug des Landes einzurichten. Auch die Frage, ob erste Planungen für ein derartiges Projekt in Angriff genommen werden sollen, verneint Thiele.

Dagegen sind sich bundesweit die Fachleute längst einig: Jeder Fall ist ein Kapitel für sich, birgt oft großes Konfliktpotenzial - bis hin zum Selbstmord wegen Perspektivlosigkeit. Das stimmt nach MZ-Informationen mit den Erfahrungen von Bediensteten in Sachsen-Anhalts Vollzugsanstalten überein. Der führende Experte auf diesem Gebiet ist Thomas Maus. Der Beamte leitet den deutschlandweit ersten Rentner-Knast in Singen (Baden-Württemberg). Seine Botschaft: „Es geht nicht um ein Altenheim, aber ältere Gefangene brauchen eine spezielle Betreuung.“

Erste Gefängnisse stellen sich auf Senioren ein

Das Vorzeige-Objekt mit 48 Plätzen gilt als ständig ausgebucht, der älteste Bewohner ist 85 Jahre alt. Ein Grund, den Maus hervorhebt: Viele Ältere hätten Angst vor Jüngeren, weil im Vollzug oft das Recht des Stärkeren gelte. Günstiger sei deshalb ein Vollzug, wo sie sich mit Gleichaltrigen austauschen könnten. Bewährt hätten sich zudem extra auf diese Klientel zugeschnittene Angebote für Sport, Musik und Gedächtnistraining, sagt Maus. Die Bundesländer verfolgen bislang keine einheitliche Strategie.

In Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile eine Warteliste für die Senioren-Abteilung in Detmold. Die 22 Plätze sind ohne Unterbrechung belegt. Entlastung soll nun ein ähnliches Projekt in Bielefeld bringen. Im Osten verfolgt bislang nur Sachsen diesen Lösungsansatz.

Keine optimale Lösung im Umgang mit dementen Häftlingen

Im legendären „Zuchthaus“ Waldheim, der ältesten Anstalt in Deutschland, ist eine extra Station für 30 Senioren entstanden. Diese Häftlinge können unter anderem regelmäßige Sprechstunden mit einem Sozialarbeiter nutzen, an Computerkursen oder Ergotherapie teilnehmen. Dagegen wollen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern genauso wie Sachsen-Anhalt zunächst die weitere Entwicklung abwarten.

Eine Frage, auf die es in noch keinem Bundesland eine optimale Lösung gibt, ist der künftige Umgang mit dementen Häftlingen. Ihre Zahl wird amtlichen Prognosen zufolge in den nächsten Jahren beträchtlich steigen. Gleichzeitig spielen Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme eine immer größere Rolle.

Bislang kommen die Betroffenen einfach ins nächste Justizkrankenhaus, das traditionell aber nicht für Langzeit-Patienten ausgelegt ist. Vor diesem Hintergrund werben Praktiker sogar für Strafaussetzung. Ihr Argument: Strafe ist sinnlos, wenn ein Gefangener infolge Gebrechlichkeit und geistiger Schwäche überhaupt nicht mehr merkt, dass er im Knast sitzt. (mz)