Im Nervensystem Im Nervensystem: Wie sich Netzbetreiber 50 Hertz auf das Kohle-Ende vorbereitet

Berlin - Am östlichen Stadtrand Berlins liegt Neuenhagen. Altbauten und schicke, neue Einfamilienhäuser wechseln sich ab, wie es in Gemeinden rund um die Hauptstadt mittlerweile typisch ist. Von einem Aldi-Markt am Ortseingang führt eine Straße zu einem mehr als 60 Jahre alten Umspannwerk. An der Pforte ist ein kleiner Schlagbaum - alles wirkt beschaulich und unspektakulär.
In einem der Flachbauten auf dem Gelände betreibt der Stromnetzbetreiber 50 Hertz allerdings seit 2011 sein „Transmission Control Centre“. Es ist nicht übertrieben, es als Nervenzentrum des nord- und ostdeutschen Stromnetzes zu bezeichnen.
Von hier aus wird dafür gesorgt, dass Millionen Menschen verlässlich mit Strom versorgt werden. Doch wird das auch nach der Abschaltung der Kohle-Kraftwerke in gewohnter Form möglich sein?
Am Eingang des Gebäudes steht Andreas John. Der Bereichsleiter Systemführung trägt einen dunkelblauen Anzug und ein hellblaues Hemd. Um die Tür zum Kontrollraum zu öffnen, legt er seine Hand auf einen Scanner. Drinnen wird auf einem riesigen Bildschirm das mehr als 10.000 Kilometer lange Höchstspannungsnetz in Ostdeutschland schematisch angezeigt.
Ostdeutschland ist inzwischen Öko-Strom-Exportweltmeister
Auf dem Monitor werden aus Leitungen Linien. Fast alle leuchten grün - sind also störungsfrei. Auch die großen Kohlekraftwerke im Raum Leipzig/Halle sind verzeichnet. John steuert das sächsische Kraftwerk Lippendorf an, das an diesem Tag fast voll ausgelastet 1.700 Megawatt bereitstellt. John vergleicht das Stromnetz mit einem Spinnennetz: „Es muss ständig unter Spannung gehalten werden.“ Große Windparks, Gas- und Kohlekraftwerke sind wie Ankerpunkte, die das Netz spannen. „Man kann sie nicht einfach herausnehmen, ohne entsprechende Ersatzmaßnahmen vorzunehmen.“
Durch die erneuerbaren Energien hat sich der Betrieb des Netzes fundamental verändert: Im Jahr 2009 waren in Ostdeutschland Öko-Stromanlagen mit einer Leistung von 15 Gigawatt installiert, zehn Jahre später sind es 33 Gigawatt.
Zum Vergleich: Die ostdeutschen Braunkohlekraftwerke besitzen eine Leistung von zehn Gigawatt. Doch während Windräder im Binnenland im Schnitt nur 2 000 Stunden im Jahr unter Volllast laufen, kann ein Kohlekraftwerk bis zu 8.760 Stunden Strom liefern. Dennoch: „Mehr als 56 Prozent des Stromverbrauchs in unserem Netz werden durch erneuerbaren Energien gedeckt“, erläutert der 50-Hertz-Manager. Damit erfülle der Osten bereits heute annähernd die Klimaschutzziele der Bundesregierung für 2030.
Für Netzmanager ist der Wetterbericht ihr wichtigstes Arbeitsinstrument
Das Problem: Wind und Sonne liefern unregelmäßig Strom. Es gibt Tage, da liefern sie mehr Strom als verbraucht wird, an kalten, dunklen Wintertagen fällt die Produktion dafür tagelang fast komplett aus. Auch während des letzten Sommers standen viele Windkraftanlagen wegen des stabilen und großflächigen Hochdruckgebietes still, weil kaum Wind wehte. Darauf haben sich die Netzmanager eingestellt.
Ihr wichtigstes Arbeitsinstrument ist inzwischen der Wetterbericht. „Wir erhalten von drei verschiedenen Anbietern die Prognosen“, erläutert John. Daraus werde abgeleitet, wie viel Wind- und Sonnenstrom am kommenden Tag im Netz sei. Diese Werte werden auch während des Tages laufend aktualisiert und fließen in die Planungen ein.
Da Ökostrom Vorrang im Netz besitzt, werden danach die Einsatzpläne für Braunkohle- und Gaskraftwerke erstellt. Aus der Leitstelle in Neuenhagen wird also bestimmt, wie viel Strom beispielsweise das Kraftwerk Schkopau (Saalekreis) produzieren darf. Doch allein damit lässt sich das Stromnetz nicht managen.
Ostdeutschland ist inzwischen eine Art Öko-Strom-Exportweltmeister. „Im vergangenen Jahr haben wir 49 Terrawattstunden abgegeben“, sagt John. Das sei knapp die Hälfte der produzieren Energie. Der meiste Strom fließt in industriereiche Regionen in West- und Süddeutschland ab. Aber auch nach Polen und Tschechien wird fleißig Ökostrom exportiert.
50 Hertz nimmt das größte Bauprojekt der Firmengeschichte in Angriff
Bisher gibt es in Ostdeutschland lediglich Pumpspeicherkraftwerke, die überschüssigen Strom in größeren Mengen aufnehmen können. Laut Energieexperte John werden Speicher allein die unstete Öko-Stromproduktion nicht ausgleichen: „Selbst riesige Batteriespeicher könnten unser Netzgebiet nur ein oder zwei Tage lang versorgen.“ Mit anderen Worten: Ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage muss über andere Wege erfolgen.
Dafür baut 50 Hertz sein Netz aus. 2017 ging die umstrittene Thüringer Strombrücke in Betrieb. Vom Umspannwerk Bad Lauchstädt im Saalekreis führt die Freileitung durch Thüringen ins bayerische Redwitz. Anwohner und Naturschützer protestierten damals massiv gegen die 50 Meter hohen Strommasten im Thüringer Wald. Doch die positiven Effekte für das Energiesystem sind laut John nicht zu übersehen. So seien die Eingriffe ins Netz, etwa die Abriegelung von Windrädern, im Vergleich zum Jahr 2015 um zwei Drittel zurückgegangen. Das spart Geld.
Die Stromtrasse spielt ihre Baukosten innerhalb weniger Jahre wieder ein. Nach Ansicht Johns ist ein Netz umso stabiler, je größer es ist. Seine Begründung klingt logisch: „Je mehr Erzeuger und Verbraucher im Netz eingebunden sind, desto besser lassen sich Ungleichgewichte an einer Stelle ausbalancieren.“ 50 Hertz nimmt nun auch das größte Bauprojekt der Firmengeschichte in Angriff: Von Wolmirstedt nördlich von Magdeburg soll ein Erdkabel quer durch Sachsen-Anhalt gelegt werden, um Windstrom nach Bayern zu leiten. Die 580 Kilometer lange Trasse ist ein Milliardenprojekt, das am Ende die Stromkunden bezahlen müssen.
Es drohen keine Stromausfälle
Befürchtungen einiger Bürger, dass die Energiewende zu einer Überlastung der Netze führt und in einem großen Stromausfall mündet, tritt John entgegen. „Wir können das Netz jederzeit stabil halten.“ Schon heute würden Industrie-Firmen Verträge mit den Netzbetreibern abschließen, um bei Stromengpässen auf Lieferungen zu verzichten und dafür finanzielle Ausgleiche zu erhalten.
Für die Abschaltung der Kohlekraftwerke in einigen Jahren soll es Vorkehrungen geben. Um das Stromnetz „gespannt zu halten“, sollen sogenannte Kompensationsanlagen errichtet werden, die selbst keinen Strom produzieren. Ausnahmesituationen wie etwa Naturkatastrophen oder Anschläge auf die Strom-Infrastruktur sind dabei ausgeklammert. Die unscheinbare Leitstelle in Neuenhagen ist daher auch bestens geschützt. Das Gelände wird von Videokameras überwacht, die Datenleitungen sind besonders gesichert.
John hält einen Ausstieg aus der Braunkohle in Ostdeutschland für machbar. Der Energieexperte, der lange Jahre in der Schweiz gearbeitet hat, sagt jedoch auch klar: „Ohne die Braunkohle wird Ostdeutschland zu vereinzelten Zeiten verstärkt auf Stromimporte angewiesen sein.“ (mz)