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Hochwasser in Altjeßnitz Hochwasser in Altjeßnitz: Die Wut-Welle

Von Katrin Löwe 17.06.2013, 18:20
Ortsbürgermeisterin Gudrun Dietsch zeigt, wo der künftige Deich entlang führen soll. Das Areal wurde bei der Flut überschwemmt.
Ortsbürgermeisterin Gudrun Dietsch zeigt, wo der künftige Deich entlang führen soll. Das Areal wurde bei der Flut überschwemmt. Andreas Stedtler Lizenz

Altjeßnitz/MZ - Die Frösche quaken lautstark, Enten suchen sich ihren Weg auf dem See, der vor den Toren von Altjeßnitz (Anhalt-Bitterfeld) steht. Es würde idyllisch wirken, wüsste man nicht, dass der See hier nicht hingehört. Am Ortseingangsschild steht Ortsbürgermeisterin Gudrun Dietsch und zeigt mit den Armen, wo der neue Mulde-Deich einmal stehen soll. Die Betonung liegt auf soll. „Hier war ein reißender Strom“, sagt sie bitter. Der zurückverlegte, neue Deich, auf den die Altjeßnitzer seit Jahren warten, ist noch lange nicht in Sicht. Gut ein Drittel des Ortes stand so bei der Flut im Wasser.

„Wir vergessen euch nicht!“ - die Worte hören Dietsch und ihre Mitstreiter immer wieder, wenn sie mal auf ihren alten, maroden Deich aufmerksam machen. Es ist nicht so, dass sie zähneknirschend geschwiegen hätten in den vergangenen Jahren. In einem ersten Hochwasserschutzkonzept stand der Altjeßnitzer Deich für 2010 auf dem Plan. „Wir haben volles Verständnis, dass mit Raguhn und Jeßnitz angefangen wurde“, sagt Dietsch. Beide Nachbarorte, 2002 schlimmer untergegangen als Altjeßnitz, haben inzwischen Ringdeiche, die ihre Zentren schützten. Nur ein paar Kilometer weiter, da tut sich eben nichts. Petra Wernicke (CDU), bis 2009 Umweltministerin, habe eine Fertigstellung bis 2013 versprochen, erinnert sich Dietsch. Noch gibt es nicht einmal den ersten Spatenstich.

"Wir wollen den Deich sehen!"

Als Umweltminister Hermann Onko Aeikens (CDU) im April wenige Kilometer entfernt bei Priorau einen neuen Deichabschnitt einweihte - zwischenzeitlich war da auch der Hochwasserschutz von Sparzwängen des Landes bedroht -, gesellte sich die Altjeßnitzer Ortsbürgermeisterin uneingeladen dazu. Und hörte wieder: Wir werden Sie nicht vergessen. Kurz darauf wurde ein von fast allen Dorfbewohnern unterschriebener Brief an Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) geschickt. Eine Antwort gab es bisher nicht. „Wir wollen die Antwort auch nicht schriftlich, wir wollen sie sehen - wir wollen den Deich sehen“, sagt Dietsch.

Die Wut unter den Altjeßnitzern muss förmlich zu greifen gewesen sein, als Anfang Juni der Muldepegel stieg und es plötzlich hieß, der Deichschutz um Altjeßnitz würde aufgegeben. „Hätten Sie mich da mal nach meiner Stimmung gefragt“, sagt Enrico Weiß heute mit sarkastischem Unterton. „Eigentlich bin ich stinksauer.“

Zweimal stand das Wasser in seinem Haus je sechs Zentimeter hoch - am Montag und noch einmal am Mittwoch. Ein erstes Gutachten gehe von einem Schaden von rund 60000 Euro aus, sagt Weiß. Nicht nur Laminat und Fußbodenbelag müssen raus, auch die Fliesen, damit das Haus richtig trocknen kann. Etwas beruhigt hat sich der 39-Jährige inzwischen. Dennoch: Weil sich seit Jahren nichts tut, will er jetzt Konsequenzen ziehen und aus der Wasserwehr austreten.

Ebenso wie Dietsch ist Weiß sicher: Hätten sie sich nicht selbst geholfen, wäre in Altjeßnitz noch viel mehr Wasser gewesen. Mit bis zu 150 Freiwilligen und zum Teil privat besorgtem Sand haben sie Deiche geschützt, obwohl der Ort offiziell schon evakuiert war. Die meisten seien dageblieben, sagt Dietsch. Es hat trotz der bedrohlichen Situation fröhliche Momente gegeben beim Sandsackbau. Aber auch solche, in denen die Nerven völlig blank lagen. Das Wasser kam am Ende trotzdem.

Die Planungen für die Deichrückverlegung, die es in Altjeßnitz geben soll, laufen laut Umweltministerium schon lange. Im letzten Hochwasserschutzkonzept des Landes aus dem Jahr 2010 war noch von einem Baubeginn für das Drei-Millionen-Euro-Projekt in diesem Jahr die Rede. Beim Landesverwaltungsamt liegt bislang aber nicht einmal ein Antrag auf ein Planfeststellungsverfahren vor. Minister Aeikens hat nun ein stringenteres Planungsrecht gefordert. Die Überflutung von Altjeßnitz hätte es nicht gegeben, „wenn man frühzeitig gesagt hätte, wir bringen die Diskussion jetzt zu Ende“, sagte er.

Kompromisse behinderten den Deichbau

Der Landesbetrieb für Hochwasserschutz (LHW) begründet die Dauer der seit 2004 laufenden Planungen mit immer neuen Aspekten, die zu berücksichtigen gewesen seien: Da habe es Pläne für eine nahe Landstraße gegeben, die eingearbeitet werden mussten. Dann sei bei betroffenen Flächen ein Altlastenverdacht aufgekommen. Naturschutzbelange hätten immer wieder neu eine Rolle gespielt: Was zum Beispiel passiert mit dem wertvollen Altbaumbestand am Deich, welche Ausgleichsmaßnahmen sind nötig? Dazu kamen, so LHW-Vizechef Hans-Werner Uhlmann, aber auch „verständliche Interessen“ Betroffener. So habe die Agrargesellschaft den alten Deich zusätzlich stehen lassen wollen, um die für sie bedeutende Fläche nicht zu verlieren. Damit wiederum stellte sich auch die Frage, wer sich um ihn kümmert. „Es gab immer wieder neue Planungsvarianten“, so Uhlmann. Erst Anfang dieses Jahres habe ein Kompromiss gefunden werden können.

Von den Wünschen der Landwirte wusste auch Gudrun Dietsch. Und kritisiert: „Das Planfeststellungsverfahren hätte man trotzdem schon beginnen können.“ Uhlmann ist anderer Auffassung: Ohne vorherige Einigung hätten nach dem Planfeststellungsbeschluss drei weitere Verwaltungs- oder gar Gerichtsverfahren gedroht. „Dauer, Ende, Ausgang: Fragezeichen.“ Er hofft, dass die Planungen nun noch 2013 eingereicht werden können und der Bau 2015 beginnen kann. Das sei optimistisch, „aber doch jetzt eine gute Nachricht.“

Der mancher in Altjeßnitz wohl noch mit Skepsis begegnet. Wenn es dieser Tage für Gudrun Dietsch eine positive Nachricht gibt, dann ist es die: Der Irrgarten, für den Altjeßnitz bekannt ist, ist nicht betroffen, das Parkfest Mitte Juli soll steigen. Jenseits der Hauptstraße blieb alles trocken. „Dort hätten Sie die ganze Zeit Rasen mähen können“, sagt Dietsch mit dem ihr eigenen Humor, den auch das Wasser nicht vertreiben konnte.

Dass das Aushängeschild des Ortes unversehrt ist, ist ihr und Fördervereinsmitglied Günther Aßmann wichtig. An schönen Wochenenden - trocken, nicht zu heiß - kommen mitunter 500 bis 600, manchmal sogar 1000 Besucher, sagt Aßmann. Würden die jetzt wegbleiben, weil sie Altjeßnitz für komplett untergegangen halten, wäre das die nächste Katastrophe.