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Hartz IV-Empfänger in Sachsen-Anhalt Hartz IV-Empfänger in Sachsen-Anhalt: Die Klagewelle rollt nur langsam aus

Von Hajo Krämer 23.11.2014, 18:40
Die Aktenberge von Hartz-IV-Klagen wachsen.
Die Aktenberge von Hartz-IV-Klagen wachsen. DPA/ARCHIV Lizenz

Halle (Saale) - Mit der Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 sollte bei der Sozialhilfe eigentlich alles einfacher werden. Doch nach zehn Jahren Gesetzespraxis konstatiert Carsten Schäfer, Sprecher des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt und Vorsitzender Richter: „Es ist das komplexeste und komplizierteste Gesetz, das ich jemals anwenden musste.“ Er kenne kein anderes, das seit seiner Einführung innerhalb weniger Jahre gleich mehrere Dutzend Male geändert werden musste, weil die Gerichte so viele Probleme aufdecken.

Davon zeugen allein schon zehn dicke Ordner in seinem Aktenschrank - sie beinhalten in einer Vielzahl von Einzelfällen die Entscheidungen des Bundessozialgerichts zum Sozialgesetzbuch SGB II, in dem Hartz IV geregelt ist. Weil das Gesetz viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthält - wie etwa den Anspruch auf „angemessene Kosten für Unterkunft und Heizung“ - dreht sich auch von Anfang an der Streit um Fragen wie: Was ist angemessen? Das sei heute zwar vom Bundessozialgericht höchstrichterlich geklärt, erläutert Richter Schäfer, aber in der Umsetzung immer noch sehr umstritten. Und das ist nur ein Problem von vielen, deren Lösung „unglaublich kompliziert“ sei.

Beispiel „Angemessenheit“ von Kaltmiete,Betriebs- und Heizkosten: Um die in jedem Einzelfalle zu ermitteln, würden Behörden mittlerweile private Firmen beauftragen, die in den Städten und Landkreisen die Mietpreisentwicklung untersuchen, erläutert Schäfer. Auch führe die Berechnung der Leistungsansprüche von Eigenheimbesitzern mit wechselnden monatlichen Kosten und Hinzuverdienst in monatlich unterschiedlicher Höhe zu einem „erheblichen Ermittlungsaufwand“.

Diesen Aufwand müssen die Sozialgerichte von Amts wegen betreiben. Sie müssen den konkreten Sachverhalt umfassend ermitteln und sogar für den Kläger günstige Umstände berücksichtigen, die der gar nicht vorgebracht hat. Für Richter Schäfer ist das ein „Ausdruck einer großen Bürgernähe“. Die gewährleiste, dass ein Hartz-IV-Empfänger auch ohne fundierte anwaltliche Beratung zu seinem Recht kommen könne. Und das kostenlos. Die Kehrseite ist eben dieser hohe Zeitaufwand.

Beispiel Einstweiliger Rechtsschutz: Anfangs wurde die Möglichkeit, vom Gericht vorläufig eine Eilentscheidung zu bekommen, laut Schäfer „enorm häufig genutzt“ und machte zeitweise zehn Prozent aller Rechtsbegehren aus. Das band viel Kraft und verzögerte die Bearbeitung anderer Fälle. Klassisches Beispiel: Kurz vor Weihnachten ist der Heizöltank leer. In jüngster Zeit gebe es deutlich weniger solcher Anträge - für Richter Schäfer ein Zeichen dafür, „dass die Behörden gründlich arbeiten“.

Beispiel Anrechnung von Einkommen: Hierbei gibt es immer wieder Streit, wenn einmal bewilligte Leistungen von der Sozialbehörde wieder aufgehoben werden. Wenn es um die Anrechnung von hinzugekommenen Einkommen geht, nehmen die Klagen in den letzten Jahren zu, so Schäfer.

Beispiel „Bedarfsgemeinschaft“: Diese „Rechtskonstruktion“ führt laut Schäfer zu vielen Klagen und hohem Aufwand für die Gerichte. So bekommen die in einem Haushalt zusammen lebenden Bedarfsgemeinschaften in der Regel nur für sechs Monate Hilfe und ergo aller sechs Monate einen neuen Bescheid. Weil sich oft die Lebenssituation verändert - wie etwa durch Hinzuverdienste oder einen neuen Job - entstünden neue Streitpunkte und in der Folge auch neue Klagen.

Das ist einer der Gründe, warum der Richter vorerst nicht mit einer deutlichen Abnahme der Verfahrenszahlen rechnet. Die Situation habe sich stabilisiert und die Rechtsprechung habe zu klareren Regelungen geführt, meint Schäfer. Hartz IV stehe kaum noch in der Kritik. Erst im Juli hatte das Bundesverfassungsgericht endgültig klargestellt, dass Regelleistungen für Hartz-IV-Empfänger nicht verfassungswidrig sind. Das habe die Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen, so Schäfer. „Mittlerweile sind die Gesetze auch für Behördenmitarbeiter gut handhabbar.“

Das hat zur Folge, dass die Erfolgsquote der beklagten Regelungen gesunken ist. Anfangs bekamen noch 50 Prozent der klagenden Sozialhilfeempfänger zumindest teilweise Recht vor Gericht. Heute sei die Erfolgsquote niedriger, erklärt der Richter, „also sind weniger Bescheide falsch.“

Und so rollte alsbald bundesweit eine Klageflut auf die Sozialgerichte zu. Von 2005 bis zum „Rekordjahr“ 2010 verdoppelte sich etwa bei den Sozialgerichten in Sachsen-Anhalt die Zahl der Klage-Eingänge. Auch danach blieb das Niveau hoch und damit die Belastung der derzeit 92 Sozialrichter in Sachsen-Anhalt - auch wenn ihre Zahl von 2004 bis heute nahezu verdoppelt wurde.

Mit etwa 450 Verfahren muss sich ein Richter der ersten Instanz gleichzeitig herumschlagen, normal wären 350. Das hat eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 18,5 Monaten zur Folge, vor acht Jahren ergingen Urteile noch fünf Monate früher. Damit müssen klagende Hartz-IV-Empfänger in Sachsen-Anhalt heute länger als in vielen anderen Bundesländern auf ein Urteil warten.

Die Ursachen sind vielfältig. Vor allem die vielen Altfälle, die sich angehäuft haben, weil ihre Klärung sehr aufwendig ist und es drei Jahre bis zu einer Entscheidung dauern kann, drücken die Bilanz. Am Ende des Jahres 2013 wurden noch 32 972 unerledigte Verfahren im Land gezählt. (mz)

Eine Frau steht in einer Arbeitsagentur am Empfangsschalter, um sich über die Beantragung von Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld zu informieren.
Eine Frau steht in einer Arbeitsagentur am Empfangsschalter, um sich über die Beantragung von Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld zu informieren.
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Ein Wegweiser der Agentur für Arbeit
Ein Wegweiser der Agentur für Arbeit
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Ein Arbeitsloser füllt einen Antrag auf Arbeitslosengeld II aus, das umgangssprachlich oft «Hartz IV» genannt wird.
Ein Arbeitsloser füllt einen Antrag auf Arbeitslosengeld II aus, das umgangssprachlich oft «Hartz IV» genannt wird.
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