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Görlitz Görlitz: Am Nullpunkt

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 08.08.2010, 17:55
Hochwasser in Görlitz, am Ufer das Lokal von Frank Lachmann. (FOTO: DPA)
Hochwasser in Görlitz, am Ufer das Lokal von Frank Lachmann. (FOTO: DPA) dpa-Zentralbild

GÖRLITZ/MZ. - Auf der Terrasse direkt am Ufer steht noch ein großes Partyzelt von der Salsa-Party am Samstagabend. "Gegen 21 Uhr haben wir abgebrochen", sagt Frank Lachmann und zieht an seiner Zigarette. Es ist der Zeitpunkt, zu dem die Neiße im Keller seines Lokals "Vierradenmühle" in Görlitz durch die Fenster drückt und seine Existenz wegspült.

Rund 17 Stunden später, am frühen Sonntagnachmittag, steht Frank Lachmann auf eben jener Terrasse. Wenn er über die Brüstung schaut, sieht er zwei Meter unter sich das braune Neiße-Wasser am Mauerwerk lecken. "Ich bin am Nullpunkt", sagt er mit einem Zittern in der Stimme, "ich habe alles verloren." Die Wohnung und das Büro des 39-jährigen Gastwirts in einem der benachbarten Häuser am Ufer, das Lager seines Lokals mit Fleisch, Bier, Eis, die neuen Möbel - alles weg, alles unter Wasser.

Erst Anfang vorigen Jahres hat der gelernte Hotelfachmann das Restaurant übernommen. "Wir haben investiert", sagt Lachmann, "wir waren auf einem guten Weg, Daumen nach oben." Er lächelt gequält. Jetzt zeigt der Daumen nach unten. Wie hoch der Schaden ist, ist noch unklar. Allein die verdorbenen Waren seien rund 50 000 Euro wert, schätzt er. Wird er wieder aufbauen, weitermachen mit seinen knapp zehn Mitarbeitern? "Ohne Hilfe sicher nicht", sagt er. Versichert gegen Hochwasser ist er nicht, "das macht heute keine Versicherung mehr". Vielleicht kann Frank Lachmann auf das Land hoffen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hat den Hochwasseropfern Hilfen in Aussicht gestellt.

Es ist die schlimmste Flut, die Görlitz bisher erlebt hat. 1981 wurde ein Pegelstand von knapp 6,80 Metern erreicht. Jetzt liegt er bei sieben Metern. Knapp 1 500 Menschen müssen im gesamten Landkreis Görlitz ihre Häuser verlassen, noch kann niemand sagen, wann sie werden zurückkehren können. Allein in Görlitz werden mehrere hundert Bewohner von Uferstraßen direkt an der Neiße in Sicherheit gebracht. Die meisten von ihnen kommen in einem Berufsschulzentrum unter, einige bei Freunden und Verwandten. 5 000 Haushalte sind auch noch am gestrigen Abend ohne Strom. Teile der Stadt müssen mit Wasserwagen versorgt werden, nachdem ein Wasserwerk an der Neiße außer Betrieb genommen worden ist.

Normalisieren soll sich die Lage nach Angaben des Landkreises erst heute. Der Scheitel der langgestreckten Flutwelle habe Görlitz aber bereits passiert, erklärt der Katastrophenschutzstab. Mit einer zweiten Welle rechnen die Behörden nicht mehr. "Wir haben alles abgeflogen", sagt Landespolizeipräsident Bernd Merbitz, der sich am Mittag ein Bild von der Lage in der Stadt macht. Dabei hätten sich keine Anzeichen für eine weitere Welle gezeigt.

Gerade hat sich Merbitz einen Weg gebahnt durch die Schaulustigen, die zu hunderten das Neiße-Ufer säumen. Wäre die Fußgängerbrücke über den Fluss hinüber ins polnische Zgorzelec nicht gesperrt, sie würden wohl auch von dort aus die Wassermassen fotografieren und ihren Kindern zeigen. Auf einer gefluteten Uferstraße probieren Jugendliche in Gummistiefeln aus, wieweit man zu Fuß im Wasser kommt. Andere Katastrophentouristen werfen ungeniert einen Blick in die geräumten Erdgeschosswohnungen, in denen das Wasser am Nachmittag noch mindestens 30 Zentimeter hoch steht.

Vor dem Haus von Henri Wolski ist das Wasser schon wieder abgeflossen. Der 60-Jährige hat ein paar Möbel, Kleidung und einen Hometrainer zum Trocknen in die Sonne gestellt. "Vielleicht kann ich das eine oder andere noch retten", hofft er. Die Nacht hat er in seiner Datsche verbracht, "aber ich habe kein Auge zugetan". Am Samstagabend gegen 20.30 Uhr, erzählt er, sei noch alles wie immer gewesen, "aber ein paar Minuten später war es wie eine Explosion". Er meint den Dammbruch auf polnischer Seite, rund zehn Kilometer von Görlitz entfernt. Binnen Minuten steht Wolski in seiner Erdgeschosswohnung das Wasser bis zu den Knöcheln. "Dann bin ich raus, das ging alles ganz schnell."

Zu schnell, um die Anwohner warnen zu können? Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) jedenfalls sagt, eine Vorbereitung auf ein Hochwasser von dieser Dimension sei nicht möglich gewesen. Durch den Dammbruch in Polen sei das Wasser von beiden Seiten in das Neißetal geflossen. So vermeldet auch die Feuerwehr, als sie gegen 19 Uhr bei Gastwirt Frank Lachmann anruft, lediglich die niedrigste Hochwasserwarnstufe 1. "Rund zwei Stunden später", erinnert sich der 39-jährige, "haben sie dann gesagt, der Pegel steht jetzt bei 4,20 Metern." Da ist das Wasser bereits in seinen Keller gelaufen.

In seinem Gastraum stapeln sich Tische und Stühle von der Terrasse. "Die haben wir noch retten können." In einer Ecke führt eine Treppe ins Untergeschoss, nach sieben Stufen endet sie im Wasser. Im Gastraum hebt Lachmann ein Brett vom Boden. Es hat eine gläserne Decke verborgen, durch die Gäste auf eine historische Turbine blicken konnten. So haben sie hier Strom erzeugt. Jetzt steht der Schacht voll mit braunem Wasser. "Die östlichste Gaststätte Deutschlands", so hat Frank Lachmann für sein Lokal geworben, weil es direkt am Grenzfluss liegt. Diese Lage ist ihm nun zum Verhängnis geworden.

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