1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Gesellschaft: Gesellschaft: Wenn nur noch Sex zählt

Gesellschaft Gesellschaft: Wenn nur noch Sex zählt

Von ANTONIE STÄDTER 21.11.2008, 19:46

WEISSENFELS/HALLE/MZ. - Denn mit "sauber" meinen die protzenden Halbstarken, wie sie ihr stolz erklärt haben: jungfräulich, vielleicht zwölf, 13 Jahre alt. "Solch eine sexuelle Verrohung und Verdummung habe ich früher nicht erlebt", sagt Struve, die seit 18 Jahren im soziokulturellen Zentrum "Seumeclub" in Weißenfels mit Jugendlichen arbeitet. Sprüche wie "Fick dich" gehören bei einigen zum Alltagsjargon. Sex wird zum Wettstreit nach dem Motto "Wer hat die meisten?", erzählt sie. "Und viele fühlen sich einsam, weil sie dieser Norm nicht entsprechen."

Eine Erscheinung, wie sie Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher vom Berliner Kinder- und Jugendhilfswerk "Arche" in noch extremeren Ausmaßen beobachtet haben. In ihrem Buch "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist" schildern sie den "Trend zur sexuellen Verwahrlosung" anhand authentischer Berichte der Kinder und Jugendlichen. Da werden ganz selbstverständlich Pornofilme zusammen mit den Eltern geschaut, Sexorgien gefeiert. Eine Elfjährige fragt den Sozialarbeiter, ob sie hässlich sei - weil sie noch niemals mit einem Jungen geschlafen habe.

"Viele der Kids haben schon ganz früh das Drehbuch zum Sex im Kopf", so die Autoren. "Sie erleben Sex als Ware, als Droge, als Ersatz für fehlende Werte." Dabei sehnten sich die meisten nach einer funktionierenden Partnerschaft, nach Nähe und Wärme. Sex diene oft als Ersatz für Zuwendung, als Garant für ein besseres Selbstwertgefühl oder als Leistungsbeweis - wenn es schon in der Schule nicht klappt.

"Das Thema wird oft wegdiskutiert, aber wir nehmen es wahr", sagt die Referentin für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe beim Landesverband Sachsen-Anhalt des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Sabine Urban. Dabei betreffe ein problematischer Umgang mit Sexualität "nicht nur, aber hauptsächlich Jugendliche aus sozial schwächeren Familien", so Urban.

"Die Gesellschaft polarisiert sich in Arm und Reich - das schlägt sich auch in der Sexualkultur nieder", erklärt Konrad Weller. "Vereinfacht gesagt: Prekäres Leben heißt oft auch prekärer Sex", so der Professor für Psychologie und Sexualwissenschaften an der Hochschule Merseburg. "Es gibt eine wachsende Zahl von Jugendlichen mit problematischem Sexualverhalten", sagt er. "Das sollte man ernst nehmen, aber nicht dramatisieren." Denn: Aktuelle Studien gäben keinen Anlass zu der These, dass es eine sexuelle Verwahrlosung bei der Mehrheit der Jugendlichen gibt. "Für den Großteil gilt: Das Sexualverhalten der Jugend war noch nie so fit und seriös wie heute", sagt Weller.

Ein Beispiel: Laut Vergleichsstudien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Jugendsexualität ist der Anteil der Nicht-Verhütenden beim ersten Mal seit den 1990er Jahren sehr viel geringer als im Jahr 1980. Auch Teenager-Schwangerschaften gehen seit einigen Jahren zurück. So ist die Zahl der Neugeborenen von Müttern bis 15 Jahren laut Statistischem Bundesamt seit 2002 kontinuierlich gesunken. Sie lag 2007 bei 733. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen ist ebenfalls stetig zurückgegangen - dabei sank aufgrund der demografischen Entwicklung indes zugleich auch die Zahl der Mädchen und jungen Frauen dieser Altersgruppe.

Allerdings wachsen Kinder und Jugendliche heute in einer Welt auf, in der sie viel früher mit dem Thema Sex in Berührung kommen als die Generationen vor ihnen. Sei es durch flache Formate im Fernsehen, Pornoseiten im Internet oder schlicht durch die Erzeugnisse der Werbeindustrie, die mehr denn je nach dem Motto agiert: Sex sells - Sex belebt das Geschäft. "Unsere Mediengesellschaft ist sexualisiert. Noch nie gab es bereits im Kindes- und Jugendalter so viele Informationen und Erfahrungen zu verarbeiten wie gegenwärtig", so Weller.

"Die Jugendlichen stehen dem zum Teil überfordert und orientierungslos gegenüber", sagt Sozialpädagogin Kathrin Gebhardt vom Sexualpädagogischen Zentrum in Merseburg, einem An-Institut der Hochschule. Dort werden seit sechs Jahren Projekte und Fortbildungen für Kindergärten und Schulen angeboten - jedoch nur bis Ende dieses Jahres, dann läuft die Landesförderung aus.

Bei einem Projekt hat Gebhardt beispielsweise mit Teenagern über "Porno-Rapper" wie Sido und Bushido gesprochen, die in ihren Liedern sexuelle Gewalt verherrlichen. Zwar könnten viele Jugendliche beim Thema Sex allgemein "toll mitreden", erzählt Gebhardt, jedoch hätten sie häufig nur oberflächliches Wissen.

Das kann Sabine Urban vom DRK bestätigen: "Unsere Beraterinnen erleben oft, dass Jugendliche so tun, als ob sie ganz viel wissen - dann aber doch nur irgendwas in den Medien gehört haben." Ilonka Struve vom Seumeclub sagt: "Man sollte die Jugendlichen nicht dafür verantwortlich machen, wenn sie sich über Sexualität definieren." Teenager stünden unter einem enormen Druck, den vermeintlichen Erwartungen zu entsprechen. Zumal es auch viele gebe, die Treue und Zärtlichkeit schätzen und auf den Traumpartner warten wollen. Buch zum Thema: Bernd Siggelkow, Wolfgang Büscher: "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist", Gerth Medien